26./27. Apr. 19

„Kein Loch in Augen“, sagte die Ärztin. Es klang so absurd richtig, dass ich lachen musste. Ich sah noch immer die Verästelungen der Adern, als ich die Praxis verließ. Ich schirmte meine Augen ab und lief durch die Innenstadt. Die Geschäfte machten gerade auf und plötzlich wurde alles grell und das Glücksgefühl schwarz. Als ich im Wartezimmer saß, las ich: „Der Tod besteht nicht darin / daß man sich nicht mehr mitteilen / sondern daß man nicht mehr verstanden werden kann …“ Ich hob den Kopf und sah mich um. Eine Frau mit einer Schleife auf dem Kopf schob einen Ständer voller Handtaschen mit goldenen Verschlüssen ins Freie. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Wie die Schönheit im konkreten Menschen sehen, wenn das Licht, das sich im Gold der Handtaschen vertausendfacht, ein Loch in die geweiteten Pupillen reißt? Als meine Jungs vor ein paar Tagen sagten, mein neuer Rucksack sei Killer, fühlte ich mich gut.

25. Apr. 19

Gestern habe ich mit jemanden über die „Standortgebundenheit des Denkens“ gesprochen. Das ist kein aufregender Satz, denn in den letzten Jahren wird an Hochschulen sehr viel über die Standortgebundenheit des Denkens gesprochen. Es wäre schwachsinnig zu leugnen, dass es so etwas wie einen eurozentristischen Blick gibt. Ebenso wäre es schwachsinnig zu leugnen, dass Männer privilegiert sind, vor allem dann wenn sie weiß sind. Was aber ist zu tun? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es keine Antwort sein kann, die Suche nach Wahrheit für obsolet zu erklären. Gerade flog eine Meise in mein Zimmer, setzte sich auf meinen Plattenspieler und laberte mich zornig von der Seite an, als ich mich ihr zuwendete. Im letzten Sommer ist eine Elster über den Balkon in mein Zimmer gelaufen. Als sie mich sah, flog sie davon. Ich legte Brötchenreste auf den Balkon und einige Zeit später lag dort, wo ich die Brötchenreste hingelegt hatte, ein rosa Plastikstück. Dieses ganze Identitätsgequatsche ist so ermüdend. Ich bin doch nicht einmal mit mir selbst identisch. Heute glaube ich daran, in der Natur Ruhe zu finden. Und morgen lese ich über ein Erdbeben oder eine Spinne groß wie eine Fingerkuppe, deren Gift in weniger als fünf Minuten tötet. Was will mir eine Elster sagen, wenn sie mir ein rosa Plastikstück auf den Balkon legt? Da sind zu viele Metaebenen im Spiel gerade und zu wenig basics. Danke, Bitte, Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Und: Nein, ich muss nicht für alles und jeden Verständnis aufbringen.

23. Apr. 19

Vor einigen Tagen entdeckte ich Tracy Emin. Ich habe null Ahnung von Malerei und Zeichnungen. Ich saß mal eine Stunde vor einem Turner Gemälde, das im Philadelphia Museum of Arts hängt und staunte. Mein Zugang ist willkürlich, manchmal glaube ich, mir eines Kriteriums gewiss zu sein, aber das hält nie lange vor. Ich entdeckte Tracey Emin als Cover eines Henry Miller Buchs. Also sie war nicht das Cover, sondern eine ihrer Zeichnungen – oder wie ich las: Monotypen – ist auf dem Cover abgebildet. Es ist eine Sexszene, die Frau sitzt oben, weshalb der Titel On Top lautet. Es kann sein, dass ich länger über den Titel nachdenken müsste. Die Striche könnten mit Filzstift gezeichnet/gemalt sein oder mit Kohle. Aber wahrscheinlich wird bei Monotypen gar nichts gezeichnet/gemalt, sondern gemonotypt. Es ist mir egal, denn die Darstellung ist dreckig und intim und hat etwas Wahrhaftiges. Die Frau hat etwas Wahrhaftiges. Das Gesicht des Mannes ist mit groben Strichen geschwärzt. Warum das so ist, verstand ich, nachdem ich die ersten 65 Seiten der Autobiographie Emins gelesen hatte. Wobei die Bezeichnung Autobiographie unpräzise ist, denn die Sprache ist zu wirklich für die Wirklichkeit. Da stehen unglaubliche Sätze, sagte ich zu meinen [1] Studierenden, als ich über das Buch sprach. Seit mehreren Semestern versuche ich am Ende eines Seminars wilde fünf Minuten zu etablieren. Das mag kindisch klingen, ist aber ziemlich ernst. Die Idee ist, dass irgendwer über irgendetwas spricht, das sie oder ihn in der letzten Zeit begeistert hat. An deutschen staatlichen Bildungseinrichtungen herrscht völlige Begeisterungslosigkeit. Unsere Augen sind trübe. Das geht so nicht.

[1] Note to myself: Warum verwende ich ein Possesivpronomen?

 

21. Apr. 19

Ich trinke Kaffee auf dem Balkon. Ein Falkenpaar landet in den Ästen der Waldkiefer, die mein Zuhause ist. Ich lese über Bolaño und Jünger und denke, dass der Essay Susanne Klengels mehr Sinn macht als die beiden komplett verrückten Bücher von Christgau und Clark. Aber auch in diesem Text wird die Frage nach der Verherrlichung von Gewalt gestellt. Ich habe Bolaño nie auf diese Weise gelesen. Er schreibt über Gewalt, wie darüber zu schreiben ist: Als Teil von uns und als Gegenteil von uns. Als ich in Blanes am Strand die Tauben fütterte, wünschte ich, er würde neben mir auftauchen und lächeln. Die Anzahl der Toten wird alle zehn Minuten nach oben korrigiert, Sri Lanka, Sonntag, der 21. April 2019. Gestern saß ich mit einem Freund in einem Biergarten, später in einer Kneipe. Wir haben keine Witze über Hitlers Geburtstag gemacht, obwohl links und rechts und vorne und hinten überall Gesichter lauerten, die danach geschrien haben. Mein Freund sagte mehrere wahre Sätze wie diesen: Die ganzen Kaputten haben endlich einen Überbau, um ihre Kaputtheit als Befreiung zu verkaufen. Natürlich ging es ums Ficken. Am Ende des Tages wird Pasolini Recht behalten und alles wird Ware sein. L` chaim, mein Freund, auf den neuen Tag.

Jung, brutal, gutaussehend

Editorische Ergänzungen

Ich kenne die Diskografie von Farid Bang und Kollegah nur bedingt. Ich weiß, dass beide sehr viel Wert auf ihre Körper legen. Es wäre ein Leichtes, ihre aufopferungsvolle Arbeit am eigenen Körper ins Lächerliche zu ziehen. Die Sätze und Zwischenüberschriften schrieben sich schnell: Blut, Schweiß und Eiweiß. Auch spritzige Analogien etwa zur Orgienszene aus Wladimir Sorokins Roman „Der Tag des Opritschniks“ wären schnell gezogen. Sarkastische Zeilen voller Verachtung. Ich spiele dieses Spiel aber nicht mit. Die Namen Farid Bang und Kollegah fallen an dieser Stelle zum vorletzten Mal. Alle kennen sie. Sie sind es aber nicht wert, genannt zu werden. Mögen die beiden im Dschahannam die ihnen zustehende Etage bewohnen.

Diese Stimmen kennt hingegen im sehr deutschen Deutschrap niemand (mehr). Es ist nur eine kleine Auswahl. Lest und versteht und kauft nie wieder ein Produkt der Verachtung.

„Unterernährung, Entkleidung und andere körperliche Unbilden, die so leicht und billig zu erzeugen sind und deren Erzeugung die Nazis Meister waren, wirken rasch zerstörend, und noch bevor sie zerstören, lähmen sie; und das umso mehr, wenn ihnen Jahre der Absonderung, der Demütigungen, der Misshandlungen, der Deportationen, des Abbruchs familiärer Bande und aller Beziehungen mit der Außenwelt vorausgegangen sind.“

Primo Levi, Die Untergegangenen und Geretteten. Levi war von Februar 1944 bis Januar 1945 in Auschwitz inhaftiert.

„Klar ist jedenfalls, dass die ganze Frage der Wirkung des Geistes dort nicht mehr gestellt werden kann, wo das Subjekt, unmittelbar vor dem Hunger- und Erschöpfungstod stehend, nicht nur entgeistet, sondern im eigentlichen Wortsinn entmenscht ist.

Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Améry war von 1944 bis 1945 in den nationalsozialistischen Zwangslagern Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen inhaftiert.

„Die im Konzentrationslager herrschenden Bedingungen hatten so verheerende Auswirkungen auf den Organismus der Häftlinge, dass diese die Fähigkeit verloren, noch schnell reagieren zu können. Der hygienische Zustand des Konzentrationslagers und das Fehlen der elementaren sanitären Einrichtungen (sowie überhaupt der Wassermangel) machten die Einhaltung der elementarsten Grundsätze der Hygiene unmöglich.“

Anna Pawełczyńska, Werte gegen Gewalt. Pawełczyńska war vom Mai 1943 bis Oktober 1944 in Auschwitz inhaftiert und wurde dann in ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg überstellt.

„Das schlimmste war, dass ich ständig hungrig herumlief. In meinem Bauch rumorte es. Der Körper brauchte mehr Nahrung. Leider war die nirgends zu bekommen.“

Tadeusz Sobolewicz, Aus der Hölle zurück. Sobolewicz wurde zuerst in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, später wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald und dann ins Konzentrationslager Flossenbürg überstellt, von wo aus er wiederum in kleinere Außenlager verlegt wurde.

 „Schacht und Baukommando Buchenwald, Frühjahr 1944. Eine Kolonne von Juden und Polen verrichtet unter persönlicher Aufsicht des SS-Bauführers Erdarbeiten auf steinigem Grund – auch für kräftige Menschen keine geringe Leistung, für abgemagerte ausgehungerte Wracks beinahe unmöglich. Nur die Angst treibt zur äußersten Kraftanstrengung an. Und die Angst ist mehr als berechtigt: Der Bauführer erspäht zwei Juden, deren Kräfte schwinden. Er geht hin und erteilt einem Polen (Strzaska war sein Name) den Befehl, die beiden, die sich kaum mehr auf den Beinen halten können, einzugraben. Der Pole erstarrt – und weigert sich. Daraufhin nimmt der Scharführer einen Schaufelstiel, prügelt den Polen und veranlasst ihn, an der Stelle der zwei Juden sich in eine der Gruben zu legen. Dann zwingt er die Juden, den andren mit Erde zu überschütten, was sie in Todesangst und in der Hoffnung, selbst dem grausigen Schicksal entgehen zu können, tun. Als von dem Polen nur noch der Kopf sichtbar ist, befiehlt der SSler ‚Halt!‘. Er lässt den Mann wieder heraus buddeln. Nun müssen sich die beiden Juden in die Grube legen, und Strzaska erhält erneut den Befehl, sie mit Erde zuzuschütten. Langsam füllt sich die Grube. Als sie endlich voll ist, trampelt der Bauführer lachend selber die Erde über den beiden Opfern fest. Alle anderen Häftlinge arbeiten währenddessen ununterbrochen wie toll weiter, um der Bestie nur um Gotteswillen in keine Weise ‚aufzufallen‘ und nicht etwa ihren Blick auf sich zu lenken. Fünf Minuten später werden zwei von ihnen gerufen; sie müssen die Eingegrabenen sofort wieder frei freilegen. Die Schaufeln fliegen, vielleicht sind die Kameraden noch zu retten. Einem der beiden Juden wird in der Hast des Grabens durch eine Schaufel das Gesicht aufgerissen, aber er ist schon tot. Der andere gibt schwache Lebenszeichen von sich. Darauf der Befehl des SS-Mannes: beide zum Krematorium zu bringen.“

Eugen Kogon, Der SS-Staat. Kogon war von 1939 bis 1945 in Buchenwald inhaftiert.

„Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen.“

Farid Bang & Kollegah, 0815.

Variationen über das Königreich

Lang lebe der König: Zapp, Zapp, Zapp
Glücklich zu sein, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Das Bedürfnis auf alles zu scheißen, ist grundsätzlich verständlich. Der Mensch lebt im Zustand des permanenten Zerwürfnisses mit sich selbst. Die Welt ist eine Zeitung. Die Würfel sind gefallen. In Würde leben heißt, die Phantasie gegen das Glück und anderen Scheiß zu verteidigen. Und nun weiter im Programm: Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel, FDP, hat heute Morgen bekannt gegeben, dass er zusammen mit CDU/CSU-Fraktionsvorsitzendem Volker Kauder und hochrangingen Militärs eine Delegation anführen wird, die am Freitag nach Manila aufbricht, um dort mit Vertretern der Slumbewohner zusammenzutreffen. Ziel ist, herauszufinden, welche Chancen und Potentiale das Ende der Herr-Knecht-Dialektik für die Zivilisierung der Sexsklaverei und Kinderprostitution eröffnet.

Lang lebe der König: Diktatorische Verflechtungen
Kim Jong Il ist der Vater der Rakete. Kim Jong Un ist der Sohn des Vaters der Rakete. Der Name der Frau des Vaters der Rakete, wird nicht genannt. Der Hund der Familie ist unbestätigten Angaben zufolge groß, grau und gefräßig. Auf Wunsch der Familie ist die Rakete ein Abbild des Hundes. Lukaschenko ist ein Sohn Europas. Wie in allen Familien gibt es Streit. Über das Essen und die Dekorierung des Tisches zum Beispiel. Lukaschenkos Hund, so wird gemunkelt, ist ein Geschenk deutscher Sicherheitsbehörden. Sein Ururururururvorfahre biss und bellte bereits in Sobibor. Aus diplomatischen Kreisen ist zu vernehmen, dass Galina Lukaschenko den Hund mehr liebt als ihren Mann (sie wurde seit längerer Zeit nicht mehr gesehen, was hier aber nichts zur Sache tut). Das wiederum ist menschlich, und betrifft 93% der Familien mit Hunden. Ahmadinedschad hingegen will erst noch Vater der Rakete werden. Sein Ziel ist, den zionistischen Hunden das Maul zu stopfen.

Lang lebe der König: Stand der Dinge
Kate ist schwanger steht in krakeliger Schrift auf einem ausgebrannten Panzer. Die Zeit ist stehengeblieben. Rauchsäulen stehen in der Luft. Schwarze Türme, die seit eh und je für den Tod stehen. Ein Junge mit einem Zauberstab steht zwischen Leichen: Abrakadabra Simsalabim. Der Himmel öffnet sich und ein Kind plumpst zu Boden.

Lang lebe der König: Kreative Lösungen
Die Szene wird in die Geschichte des Films eingehen. Die erste Einstellung zeigt die Silhouette eines Mannes. Er breitet die Arme aus. Über den Hügel geht die Sonne auf. Ein Sonnenstrahl blendet das Auge des Betrachters. Schnitt. Eine gläserne Tischplatte reflektiert die Sonnenstrahlen. Um den Tisch herum sitzen vier Männer. Alle in dunklen Anzügen. Sie trinken Tee. Auf dem Tisch steht ein Teller mit Gebäck. Niemand sagt etwas. Eine Frau betritt das Zimmer. Sie trägt ein hautenges schwarzes, mit roten Blüten besticktes Kleid. Einer der Männer macht eine Handbewegung. Die Frau verbeugt sich und verlässt das Zimmer. In ihrem Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Schnitt. Über die Wangen des Mannes laufen Tränen. Er bewegt die Lippen, seine Worte sind für den Zuschauer nicht zu verstehen. Dann schließt er die Augen und springt. Schnitt. Der jüngste der vier Männer steht auf. Die anderen blicken ihn an. Er streckt seinen Arm aus und lässt die Tasse fallen. Dann sagt er: Netze.

Lang lebe der König: Kleine Herrscher
Ok, alle Befürchtungen bestätigen sich, die Bombe tickt, der Mächtige liegt auf dem Rücken, seine Hände umklammern die Titten seiner Mätresse, sie schreit, wie sie es gelernt hat, schluckt den Ekel herunter, wie sie es gelernt hat, leert Champagnerglas nach Champagnerglas, wie sie es gelernt hat, reitet den Herrscher immer heftiger, die Wände kommen näher, Tränen schießen ihr in die Augen, sie schreit lauter, schlägt auf den großen Mann ein, kratzt und beißt ihn, in den Hals, die Schulter, die Brust, das Zimmer stürzt ins sich zusammen, sie jault auf, hebt die Hände, die Sterne, die Sterne, hol mir die Sterne vom Himmel, brüllt sie ihm ins Ohr, und er wächst und wächst und wächst und wächst und wächst und wächst, und er schrumpft und schrumpft und schrumpft und schrumpft und schrumpft…

Lang lebe der König: Was universell, Nutte?
Im Rapgame gibt es viele Kings. Stolz reiten sie an der Spitze der Posse in den Krieg. Ihre Schwänze ragen über die Köpfe aller hinweg. Sie durchbohren die Kehlen der Feinde, bringen Därme zum platzen, Pussys zum schreien. Sie schlagen Schneisen in die Schwuchtelheere, teilen Meere wie Moses. Die Schwänze glänzen vom Speichel der Groupies. Der Samen der Kings spritzt um die Welt. Wir ernten, was wir säen. Word.