06. Mai 23

[afterlife; heaven/hell]
an einem ganz normalen samstag
lutscht man den drops
bis die zunge schlapp
herunterhängt

[afterlife; heaven/hell]
an einem ganz normalen samstag
lutscht man den drops
bis die zunge schlapp
herunterhängt
I.
Selbstverständlich hatten die Bullen danebengeschossen.
Erster Satz des Romans.
„…and then go out and try to get myself some glory.“[Anatole Broyard, The Literature of Death, in: Intoxicated by my Illness, p. 84]
II.
„In Deutschland wird sich von rechts angestellt“, sagt die Frau. Am dritten Tag des neuen Jahres möchte ich Amok laufen. Sie kriegt sich gar nicht ein, sucht, als ich den Laden verlasse, Blickkontakt. In ihren Augen bin ich der Schuldige. Ich zögere, erwidere nix und gehe. Sie wird den restlichen Tag über die falsch positionierte Schlange reden und ich werde über ihre Stachelschweinfrisur schreiben. Verhindert zu schreiben, Amok zu laufen? Macht schreiben glücklich? Bin ich glücklicher als die Frau?
III.
Seit Wochen fotografiere ich Krähen. Fukase dreht sich im Grab um.

[a guest]
Ich klebe aus Magazinen ausgeschnittene Fotos in mein Notizbuch, blättere nach langer Zeit wieder darin, stoße auf kurze Texte, die ich während einer USA-Reise geschrieben habe:
the sun goes down
everything is golden
except my perception
—
in the south
pretty heavy black mamas
drivin` busses
like drivin` a spaceship
insane, but with a smile
and they call me
sweetie
—
black widows
copperhead snakes
moccasin snakes
choose the way
you want me
to get killed
—

on the road [no filter, just a dirty window]
Auf dem Geländer meines Balkons landen ein Amselweibchen, ein Amselmännchen und eine Taube. Sie fressen die Körner, die ich verstreue und werden jeden Tag zutraulicher. Eine Meise fliegt in das Zimmer und setzt sich auf die Couch. Der Raubvogel dagegen kommt nicht mehr.
In einem der Nachbargärten versuchen Mutter und Vater, und ab und an ihr Sohn, einem jungen Hund Gehorsam beizubringen. Die Frau ruft: „Early, apport!“ Aber noch ist der Hund nicht versaut und kackt lieber in den Garten.
Einen Garten weiter, der zu einer Villa gehört, die unverbunden inmitten der 60iger Jahre Häuschen steht, mäht ein Mähroboter das Gras.
Am Ostersonntagmorgen, als ich in zwei Decken gehüllt um sieben Uhr auf dem Balkon frühstückte, war das elektrische Summen der Maschine das einzige Geräusch. Erst war mir das Summen gleichgültig, dann bohrte es sich in meinen Kopf, bis die um die Hausecke wandernde Sonne das Summen still stellte.
Später saß ich auf einem Hügel und las. Die Wolken schoben sich ineinander, doch bildeten nie eine geschlossene Decke. Immer wenn ich vom Buch aufblickte, war Licht, wo vorher keines war.
Auf dem Weg nach Hause tanzte ein Mädchen auf dem Fahrradweg. Sie bemerkte mich nicht, aber ihre beiden Schwestern hatten gesehen, dass ich sie beobachtete. Sie lachten und als das Mädchen begriff, warum ihre Schwestern lachten, hielt sie inne, entschied, dass nicht Tanzen, sondern Innehalten albern ist, tanzte weiter und lachte mich an, als ich an ihr vorbeifuhr. Ihr ganzes Gesicht war Glück.
In der heutigen FAS ist eine Rezension von Johannes Franzen zu Moritz von Uslars Nochmal Deutschboden abgedruckt, die in ihrer „Gleichförmigkeit“ deutlich deutscher ist als die Kleinstadt Zehdenick, in die von Uslar nach zehn Jahren zurückgekehrt ist. Ich verzichte auf eine Inhaltsangabe des Buchs wie auf eine detaillierte Kritik der Kritik (leider hart vorhersehbar: Ranschmeißen an Arschlöcher und Typengehabe, Verharmlosung von Rassismus, Sexismus usw.), denn draußen scheint die Sonne, und komme direkt zum entscheidenden Punkt.
Der entscheidende Punkt ist, wie es Pasolini formulierte, dass der Tod eines denkenden, schreibenden Menschen nicht darin besteht, sich nicht mehr mitteilen zu können, sondern nicht mehr verstanden zu werden. Nun scheint es zwei Hauptdeutungen zu geben, was unter ‚verstanden werden‘ zu verstehen ist. In der einen Deutung wird Verstehen daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Erfahrungen gleichen; wobei Erfahrungsfähigkeit mal mehr mal weniger stark an unveränderliche Merkmale gebunden wird. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil du erfahren hast (nicht erfahren hast), was ich erfahren habe. In der anderen Deutung wird Verstehen vor allem daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Haltungen – oder altmodisch gesprochen: Ideologien – gleichen. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil die Brille, durch die du auf die Welt guckst, der Brille gleicht (nicht gleicht), mit der ich auf die Welt gucke. Aber anstatt beide Deutungen als miteinander verwoben zu betrachten und ihre wechselvolle, also lebendige, Beziehung als unhintergehbare Denkvoraussetzung zu begreifen, werden Mauern hochgezogen. Die Deutungen schließen sich aus. Eine (stille, innere) Übereinkunft zwischen einem bäuerlichen Küstenmenschen, der nie gelernt hatte, zu lesen und zu schreiben und einem homosexuellen Dichter, der nie gelernt hatte, ein Fischernetz zu knüpfen, die vor dem tosenden Meer stehen, war bei Pasolini nicht nur prinzipiell möglich, sondern ‚natürlich‘. Denn was die beiden verbinden konnte, war etwas, das außerhalb ihrer selbst lag. In diesem Fall das Meer. Sofort wird es aber schwierig. Der Dichter besingt das Meer, bis der Küstenmensch rasend vor Wut von den Menschen spricht, die das Meer gefressen hat. Aber was folgt? Sicher ein paar harte Worte. Sicher Missverstehen. Aber dann, so spinnt sich die Allegorie in meinem Kopf fort, kehrt Ruhe ein. Beide betrachten das Meer und wissen um Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit, die Bauer und Dichter gemeinsam sind.*
Was zur Hölle hat das nun alles mit Franzens Rezension und von Uslars Nochmal Deutschboden zu tun?
Klar, in von Uslars Buch stehen ungenaue Sätze, auch Sätze, die mich sau aufregen (das letzte Kapitel z. B. nervt). Ich habe beim Lesen geflucht, gelacht und vor Freude laut vor mich hin gelabert. Aber ich ‚verstehe‘ sein Buch, weil es einen Punkt außerhalb anpeilt: Die Frage, was für Menschen – ja sogar für rassistische Kleinstadtarschlöcher – so universelles Zeug wie Zurechtkommen, Arbeit, Angst, Sehnsucht oder Liebe bedeutet. Uslar fragt, wie dass denn alles zusammen geht. Er steckt in einem männlichen Reporterkörper, aber sein Text kreist nicht um ihn wie die Erde um die Sonne, wie das Franzen behauptet. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt. Franzens Rezension bestätigt, was vorher feststeht: Der sich nach Prolligkeit/Authentizität sehnende Reporter von Uslar schreibt ein eindimensionales Buch über Prolls, weil er das als Mann eben kann. Das ist mit Verlaub: Bullshit. Es ist Uslars Buch, nicht Franzens Rezension, das Gewissheiten aufzubrechen hilft. Nicht zuletzt, weil es immer wieder implizit die Frage aufwirft, inwieweit heute die Vorstellung, Verstehen nach den Kriterien der Erfahrung oder der Ideologie zu sortieren, in die Irre führen kann. Nicht weil die Kriterien falsch sind, sondern weil ‚unser‘ Wirklichkeitsbezug (durch Erfahrung und Ideologie vermittelt) bröckelt. Wir stehen eben nicht getrennt und doch gemeinsam vor dem brausenden Meer und halten die Fresse, sondern sitzen vor unseren Laptops und tippen wirres Zeug, in unserem Rücken eine Wand mit Ozeantapete.
Die eine Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist diese: Da ist nix außerhalb. Oder anders formuliert: Da ist nix Unverbrauchtes, Neues, Hoffnungsvolles außerhalb, etwas, das wir teilen könnten, von wo aus wir unseren Selbstbezug einordnen und unsere Schwachsinnigkeit wenigstens ein bisschen aufhellen können. Da sind nur die immergleichen Angebote: Gott (tot), Familie (kaputt), Nation/DDR/Volk (holy f***), Vergangenheit (vorbei), ICH (oh yeah).
Die andere Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist aber diese: Es gibt sie, die seltenen Momente, in denen Menschen, die sich in ihrer Lebenswirklichkeit völlig fremd sind, (still, innerlich) übereinstimmen. Da kann eine plötzliche Nähe aufblitzen, die das Misstrauen außer Kraft setzt und wenn nur für Sekunden. Dafür braucht es, auch wenn es so vieles einfacher macht, nicht einmal das Meer. Hier könnte das Denken (und eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit von Uslars Buch) einsetzen. Gefragt werden müsste: Was ist es, was es noch nicht gibt, das uns verbindet? Und kann daraus ein Zusammenleben gebaut werden, in dem Unterschiedlichkeit und Differenz bei niemandem Angst, Wut oder Hass auslösen, sondern Neugier?
* Falls jemand Pasolini Experte ist (ich bin es nicht): Die Bauer-Dichter-Meer-Szene habe ich mir ausgedacht, erfunden ist sie aber nicht.
Eine Herde wilder Kaschmir-Ziegen wurde in den Straßen Llandudnos gesichtet. (Ich wusste weder, dass es eine Tierart namens wilde Kaschmir-Ziegen gibt, noch hatte ich Kenntnis von einem Ort namens Llandudno. Krass, diese Wirklichkeit.)
Seit zwei Tagen sitzt am Vormittag ein Greifvogel im Baum neben meinem Balkon. Ich kann ihn nicht sehen, er sitzt in der von mir abgewandten Seite der Baumkrone und die Nadeläste sind zu dicht. Ich höre seine Rufe, kann aber kann nicht erkennen, um was für ein Tier es sich handelt.
Am Sonntag kreiste ein großer Vogel über dem Tümpel in den Mainauen. Er hatte graue Flügel (ich schlug später die richtige Bezeichnung nach: Armschwingen), schwarze Flügelspitzen (Handschwingen) und einen breiten hellgrauen Stoß. Ich hielt ihn für einen Fischadler und starrte gebannt in den Himmel.
Das letzte Mal hatte ich Fischadler während einer Reise entlang der amerikanischen Ostküste gesehen. Dutzende kreisten über der abgefucktesten Stadt, in der ich jemals war: Jacksonville. Es gab dort einen Buchladen, der irre schön war. Amerika. Direkt nebeneinander existieren absolute Kaputtheit und größtmögliche Schönheit. Als mich in Philadelphia der Besitzer eines Second-Hand-Bookstores fragte, was ich über das Land erfahren hatte, antwortete ich: „Two people sitting next to each other in the New York Subway, one with the most lively eyes I have ever seen, full of strange kindness and joy, the other one with the saddest eyes I have ever seen, broken, close to death.”
Ich fragte einen Mann, der den Flug des Vogels mit einem Fernglas verfolgte, ob es ein Fischadler sei. Er machte Anführungszeichen in der Luft und sagte: „Ist ‚nur‘ eine Rohrweihe.“ Später musste ich den Mann erneut ansprechen. Ich war mir, nachdem ich ihn gefragt hatte, nicht mehr sicher, ob ich „Ist das ein Fischadler?“ oder „Ist das ein Seeadler?“ gefragt hatte. Seeadler in Bayreuth zu sehen ist entweder ein Anzeichen für eine Wahnvorstellung oder für Ignoranz. Ich fühlte mich dumm und wollte das Bild, das der Mann von mir haben musste, geraderücken. (Was ja wiederum auf eine ganz eigene Art von Dummheit verweist.) Zu meiner Überraschung sagte er: „Du hast Fischadler gesagt. Aber einen Seeadler habe ich hier auch schon gesehen. Aber nur ganz oben am Himmel, beim Drüberflug.“ (Noch krasser, diese Wirklichkeit).
In Theodor Mebs` Greifvögel Europas und die Grundzüge der Falknerei ist über die Rohrweihe zu lesen: „Der Spähflug über den wogenden Schilffeldern ist ein sehr wendiges, schwankendes Dahingleiten, Absinken und Aufsteigen“ (1982, S. 58).
Ja, genau! Genauso hatte das ausgesehen!
Ich schreibe und verfolge mehr oder weniger parallel dazu (Celo & Abdi Voice) das letzte Trump-Briefing zum vormals „Chinese Virus“, jetzt: „Deadly Virus“. Es liegt ein Adjektiv zwischen Allmachtsfantasien und Ohnmachtsarrangement.
Dann suche ich nach einer Passage in Detlef Kuhlbrodts Umsonst & Draußen, die ich ein paar Tage zuvor gelesen hatte und die, wie es bei im Gedächtnis bleibenden Textstellen so ist, über ihren konkreten Zusammenhang hinausreicht, ohne dass derjenige, der die Stelle gelesen hat, den Kontext, aus dem sie ursprünglich stammt, vergessen wird: „Dies ist ja alles wirklich, die Toten, die Grausamkeit der Tode, die Vorwürfe, die man sich automatisch macht, und gleichzeitig lebt man ja hier, geht es ja hier darum, dass man versucht, so sorgfältig wie möglich zu handeln, »bewusster« zu leben, die eigenen Probleme in den Griff zu kriegen, »mehr auf sich zu achten«, sich nicht von der Vergangenheit auffressen zu lassen, nicht von ihr davonzulaufen, sein Leben zu ändern, eine Vorstellung zu entwickeln von dem, was man eigentlich will, sich in die Zukunft zu werfen usw. usf.“
Usw. usf.
In Dorothea Dieckmanns Buch Kinder greifen zur Gewalt findet sich eine Passage, die, obwohl sie um ein anderes (?) Problem kreist, den Zustand der deutschen Linken, beschreibt: „Zwischen den Markierungen gähnen Abgründe, aber heutzutage ist man ein guter Springer, man probiert alles aus und bildet Gruppen und Gruppenableger und Mischgruppen, ihre Anzahl geht gegen unendlich, die Gruppenstärke Richtung eins“ (1994, S. 72). Sofort muss ich an C. denken, wie er mir von Demos erzählt, in denen Grüppchen, die ihre ach so unverwechselbare Suppe kochen, Seit an Seit laufen, ohne ein Lächeln über den Tellerrand, das verbinden könnte.
Ob sich dieselben Fragen nach Corona anders stellen? Wird es eine Lücke geben, durch die Wind dringt und Gewissheiten aufwirbelt? Oder kommt es zur handelsüblichen Verhärtung des Dings, das wir noch immer gewohnt sind, Herz zu nennen?
In einem der Gärten, die ich von meinem Schreibtisch aus sehen kann, stutzt ein Mann eine Hecke mit einer Akkuheckenschere. Er hält inne und redet mit dem Gewächs. Mich überrascht nicht, dass er das tut. Mich überrascht, aber auch eher schulterzuckend, dass es mich schon gar nicht mehr überrascht. Dann sehe ich, dass eine Frau auf der Terrasse steht und gestikuliert. Ich frage mich, was Mann und Frau, die von beiden Seiten auf die Hecke einreden, zu ihr sagen: Wie gut Dir der neue Look steht! Oder: Jetzt schaust Du endlich wieder wie eine Hecke aus. Oder: Sei doch nicht so, sind doch nur ein paar Ästchen.
Plötzlich lachen der Mann und die Frau los, was mich aus der Bahn schießt. Es könnte ja wirklich sein, dass die beiden gerade Spaß miteinander haben und, nachdem sie noch das Unkraut aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen entfernt haben, erfüllt und glücklich übereinander herfallen.
Vielleicht wird es nach Corona auch darum gehen müssen, dem Gegenüber etwas anderes zu unterstellen als sein Deutsch-Sein, seine Marktförmigkeit, seine Abgelebtheit.
Aber wie macht man das? Wie stellt man Fragen, die Fragen sind und keine Pseudo-Fragen? Kurz: Wie denkt, spricht, schreibt man weniger Scheiß?*
And: Who the fuck is ‚man‘?
* Noch dazu unter erschwerten Bedingungen, die nur bedingt auf Corona zurückzuführen sind: „Polizeieinsatz wegen Klopapier: Kundin setzt sich auf Kassenband“ (GMX); „Till Schweiger ist wütend“ (GMX) …
Er geht auf die Arbeit, die, so sieht er die Dinge, systemrelevant ist. Zumindest dann, so denkt er weiter, wenn systemrelevant bedeutet, dass das System auf freien, ambivalenztoleranten Menschen ruht, um zu sich selbst zu kommen. Das heißt: Irgendwann einmal demokratisch sein wird. Er gehörte nie zu den Gesellschaftskritikern, die ohne jeden Wirklichkeitsbezug, die Welt verbittert grau malten. Er verachtet das Reine und hat weder Wut auf noch Angst vor der Differenz. Er mag störrische Menschen und Höflichkeit. Er hat gelernt, dass Biographien mäandern.* Dass Lebensweisen Bachläufe und Flussdelta sind und niemals nie begradigte Kanäle sein sollten. Und so übt er – oder sollte es heißen: übte er – seine Tätigkeit enthusiastisch aus. Es gab müde Tage, aber zumeist nach schönen, langen Nächten, so dass auch die Müdigkeit eine schöne war. Dann begannen seine Einstellung und seine Müdigkeit sich zu verändern. Die gleichgültigen Sätze derjenigen, die die gleiche Arbeit wie er verrichteten (und hier passt das Wort), die lange zum einen Ohr rein und zum anderen rausgingen, ohne sich neben der Phantasie einzunisten, verhakten sich und blieben. Sie bildeten um einen besonders gleichgültigen Satz herum Ansiedlungen. Irgendwann wurde das Rauschen zu laut und überlagerte die einzelnen Stimmen derjenigen, wegen denen er doch eigentlich hier war. Vor ihm saßen keine Menschen mehr, er sah in Massenaugen, hörte Massensprache, entdeckte Massenleben. Er erschrak und wurde unbeweglich. Da er weder Erschrecken noch Unbeweglichsein als Dauerzustand hinnehmen wollte, entschied er sich dazu, den Vertrag, der bald auslief und den er um ein Jahr hätte verlängern können, nicht zu verlängern. Jetzt, da Corona das Leben stillstellt und verändert, gibt es Momente, in denen er seine Entscheidung, ein Jahr lang auf sicheres, gutes Geld verzichtet zu haben, als Anmaßung gegenüber denen empfindet, die ums (finanzielle) Überleben kämpfen. Aber dann spürt er, dass es genau darum ja ging und dass er genau das zu verlieren drohte: Er wollte wieder Menschen erkennen.
* Mit Dank an Götz Eisenberg für das Sprachbild.
Seit gestern ist es mir nicht gelungen, Fotos zu skalieren, damit sie unter den Text passen. Egal, was ich versuche, die Fotos werden zu groß abgebildet. Das Skalieren wirkt sich einzig auf die Schärfe des Bildes, nicht auf das Format aus.
Ich scheitere mehrfach bei dem Versuch in das Worddokument meiner Diss ein Inhaltsverzeichnis, das ich per Klick und nicht per Hand aktualisieren kann, einzufügen. Als es endlich gelingt, mache ich Atemübungen, anstatt zu schreien.
Vor dem Lockdown war ich zum Arbeiten in die Stadtbibliothek gegangen. Der Laptop blieb im Rucksack, ich exzerpierte handschriftlich, hielt inne, freute mich über die Figuren, die den 3. Stock der Stadtbibliothek bevölkern, und kam in zwei Wochen besser voran als die gesamten matschigen Monate zuvor.
Allerorts und immerzu wird gepredigt, dass Schulen und Universitäten für das „digitale Zeitalter fit gemacht“ werden müssen. Die Predigten und damit die Programme werden in der Zeit nach Corona exponentiell anwachsen. Auf die „Fragen der Zeit“ (bullshitsprech part II) wird mit Technik, Vernetzung, Gleichzeitigkeit geantwortet werden. Ich arbeite seit fünf Jahren an einer Universität und auch wenn ich nichts weiß, weiß ich das: Die einzig sinnvolle Infrastrukturmaßnahme (in Gegenden, in denen der Zugang zum Internet möglich ist), die an Universitäten, Schulen und in jedem Stadtviertel weltweit sofort umzusetzen ist, besteht in der Errichtung eines Gebäudes, das 1.) über keinen Zugang zum Internet verfügt, in das 2.) exakt ein Buch, ein Notizheft und ein Bleistift mitgebracht werden dürfen und das 3.) über einen Innenhof verfügt, in dem Wasser fließt, Bäume wachsen (in Kaltland: Waldkiefern, diese wunderschönen anarchistischen Nadelbäume) und Vögel fliegen. Und in der Mitte auf einem Stein sitzt ein dicker Mönch, der biertrinkend und in sich ruhend, die Kunst des Bogenschießens praktiziert, sobald irgendjemand meint, in einen fucking Apfel beißen zu müssen.
Mein Lockdown-Paradies erbaut in der Zwischenzeit T.: „Du musst mit dem Whiskey in der Dusche schmusen und den Hintern kraulen. Ich glaube, dass das sinnvoll ist.“
Beim Frühstück erzählt T. von ihrer großen Schwester, sie sagt: „Wenn wir uns gekämpft haben.“ Sie sagt nicht: „Wenn wir gekämpft haben.“ Und auch nicht: „Wenn wir mit uns gekämpft haben.“ Ihre Formulierung kommt, egal ob aus Versehen oder mit Absicht ausgesprochen, der Wahrheit am nächsten.
Ich entdecke den Namen des Ölofenanzünders, obwohl ich ihn seit zwei Wintern verwende. Ich finde das Wort so schön, dass ich auf die kleine Flasche zeige und laut lese: „Feuertropfen.“
Auf Momente des Glücks folgt, als wäre das Internet einzig dafür gebaut, der realitycheck: „Silbereisen wirft bei seinem DSDS-Debüt Unterhose auf die Bühne“ (GMX). Ich schließe meine Augen, als ich sie wieder aufmache, spielen vor dem Fenster Krähen Räuber und Gendarm. Die Sonne wirft ihre Schatten an die gegenüberliegende Hauswand und vervielfacht die Flügelschläge.