28. Feb. 20

Heute Nacht las ich im Traum in einem Buch mit dem Titel Die Sonne – Einsichten eines konservativen Kritikers. Die Sonne, so schrieb der Kritiker, gehe auf, sie gehe unter. Und ich, so der Kritiker weiter, werde gewesen sein.

Am frühen Abend renne ich durch den Wald. Und während ich so renne, muss ich an eine Tagung anlässlich 70 Jahre Dialektik der Aufklärung denken. Nach den zwei Tagungstagen hatte ich mir geschworen, nur noch mit Leuten, die lieber auf Weihern Eishockey spielen oder auf Klappstühlen am Flussufer sitzen, als über Adorno zu reden, über Adorno zu reden. Alles andere ist völlige Zeitverschwendung.

Ein Turmfalke sitzt in einer kargen Baumkrone, fliegt auf, als ich an dem Baum vorbeilaufe. Erschöpft und mit viel zu schweren Beinen schleppe ich mich auf den Rodersberg. Von dort sehe ich den ersten Sonnenuntergang seit Wochen.

Telefoniere mit F. So gut, sie zu hören.

Einige Überschriften: „Nach Erfrierungen: So steht es um Stephen Dürrs Zehen“ (GMX) „Corona-Verdacht: Sind George und Charlotte in Gefahr?“ (Bing) „Bling Bling in Caracas“ (Spiegel) „Naomi Seibt: ‚anti-Greta‘ activist called white nationalist an inspiration“ (Guardian) „Gefühlsbefreiung-by-Proxy“ (Konkret)

24. Feb. 20

Im Deutschlandfunk Kultur werden fünf Gründe genannt, warum trotz – oder gerade wegen – der rassistischen Morde in Hanau Karneval gefeiert werden sollte. Der fünfte Grund lautet: „Weil sonst keiner merkt, dass die Fastenzeit bald ansteht. Das macht spätestens zu Ostern dann immer so ein schlechtes Gewissen.“

Deutsches Über-Ich?

18. Feb. 20

Ich sitze in der Stadtbibliothek und lese Eisenberg. Ein älterer Mann geht zwischen den Regalen umher, zieht hier und da ein Buch heraus, blättert darin, stellt es an seinen Platz zurück. Er macht das alles mit einer Seelenruhe und furzt in recht regelmäßigen Abständen.

Ein Mädchen trägt orangefarbene Stühle durch das Stockwerk und fordert eine junge Frau zum Spielen auf. Das Mädchen gibt Anweisungen: „Ich sitze dort und Du sitzt da und dann sitzt du hier und ich sitze da.“ Was spielen die beiden? Es ist ein schönes Spiel. Vielleicht heißt es: Am richtigen Ort sein.

Drei Männer begrüßen sich. „Wie war die Arbeit?“ „Puh.“ „Und bei Dir?“ „Na ja.“ „Hast Du schon gelesen?“ „A Wahnsinn.“ So geht das die nächste Stunde. Sie sitzen an verschiedenen Plätzen, ab und an steht einer von ihnen auf, geht zu einem der beiden anderen, legt eine Zeitung auf den Tisch, streicht sie glatt und liest Auszüge aus einem Artikel vor.

An einem der Tische des Cafés, das sich in der Mitte des 3. Stocks befindet, sitzt eine millimeterdünne, weißhaarige Frau und tobt: „Ich lasse mich nicht korrumpieren.“ Es ist nicht klar, von wem oder was, aber wie sie den Satz ausspricht, ist eine große Freude.

17. Feb. 20

Lese Götz Eisenberg (dank Altenburgs Geisterbahn). Lese und lese und plötzlich schaut das zentrale Argument meiner Diss um die Ecke, so schlüssig, dass ich mit der Hand vor Begeisterung auf den Schreibtisch haue, doch als ich an der Ecke ankomme, ist es wie vom Erdboden verschluckt. Aber ich hab`s gesehen. Hätte ich nicht für möglich gehalten, so schlapp war der Morgen, so grau der Himmel.

Dann im Regen durch die Eremitage gerannt. Ein Berner Sennenhund kommt auf mich zu, ich habe ihn hier noch nie gesehen, also bleibe ich stehen und lasse mich beschnüffeln. Er verzieht angewidert die Schnauze und geht mir aus dem Weg. Ich frage mich die restliche Strecke, was da jetzt schon wieder los war. Als ich zuhause ankomme, google ich: Hunde und Knoblauch. Des Rätsels Lösung lautet: Knoblauch ist für Hunde Gift und ich hatte mittags Spaghetti aglio e olio zubereitet.

Gestern keinen Rotmilan gesehen, aber einen Schwarzweißfilm verschossen. Waldkiefern, Wolken, Weite. Ob die Soldaten, die auf dem Oschenberg noch vor nicht allzu langer Zeit das Erschießen übten, der Sonne beim Untergehen zugesehen haben? Ja, warum denn nicht.

Weiter mit Eisenberg.

16. Feb. 20

Sonntagmorgen, viel zu spät aufgestanden.

Im Deutschlandfunk läuft Kakadu. Heute rufen Kinder in der Sendung an und erzählen, was sie werden wollen. Schönster Wunsch: Taucherin. „Wo würdest du tauchen?“ fragt der Moderator. „Im Meer“, antwortet das Mädchen klipp und klar. „Was würdest du da machen?“ „Ich würde Menschen retten und Fische gucken.“

In der FAS ein Artikel über die Gleichsetzung von Nazisprech und Gendern. Ich verstehe nicht, warum das Thema unter denkenden Menschen noch diskutiert wird. Alle, die ein Gendersternchen mit Nazimethoden gleichsetzen – da ist die Tür. Aber zum entscheidenden Problem findet sich auch in diesem Artikel keine Zeile. Ich kann das jetzt nicht konsistent argumentieren. Darum kurz, pöbelig, ungenau: Nazis haben riesige Freude, dabei zuzusehen, wie bei ihren Feinden, also uns, Wort und Tat völlig auseinanderfliegen. Noch ungenauer: Sprachliche Sichtbarmachung ungleich praktische, vor Ort gelebte Solidarität. Dazu ein (bisschen bequemes) Beispiel: Viele meiner Studis sind zehnmal wacher, als ich es war/bin, was die Gewalttätigkeit von Sprache angeht. Aber sich organisieren…say what? In dieser Stadt koexistieren Critical Whiteness Seminare mit der Mohren-Apotheke, der Faschingsgesellschaft Mohrenwäscher e.V., der Gaststätte Mohren-Bräu, der Mohrenstube, der Faschotruppe Thessalia zu Prag und dem Führungskader der Jungen Alternative Bayerns harmonisch.

Starke Böen im Kopf, raus hier, Fernglas einpacken und Rotmilane suchen. Laut der Deutschen Wildtier Stiftung überwintern mittlerweile 1000-1200 Tiere in Deutschland. Vielleicht ist der Rotmilan (Männchen, Weibchen?), dem ich letztes Jahr wie ein kleiner Junge mit dem Fahrrad hinterher gefahren bin, hier geblieben. Die Chancen stehen bei ~ 3,333%.

15. Feb. 20

Überraschend viele, angenehm dreinschauende Menschen in Kulmbach. Schön auch, als das Rahmenprogramm beginnt, dreht sich über die Hälfte von der Bühne weg und geht über den Platz in Richtung der Halle, in der Höcke sprechen wird. Die Redefetzen, die der Wind herüberweht, sagen wieso: Da ist von „allen Demokraten“ zu hören, von der „Zivilgesellschaft“ und „unserer Gesellschaft“ und so weiter. Es sagt halt nur keiner, was das heißen soll. Später bildet sich eine Menschenkette, die den gesamten Platz umschließt und die Kirchenglocken läuten von 19.33 bis 19.45 Uhr. Ein Mann steht hinter dem Mikrofon, er zählt: Neunzehnhundertdreiunddreißig. Neunzehnhundert…Aber eben auch überall Menschen, die aussehen, als hätte es so etwas wie Gewerkschaften, Katholische Arbeitervereine und Fränkische Anarchisten wirklich mal gegeben. Und das Schönste: Viele lachen. Das vermisse ich ja eigentlich immer auf Demos. Diese Mischung aus Freude darüber, unbekannte Gesichter zu sehen, die einen solidarisch und schelmisch anlächeln (bei denen man sich vorstellen kann, wie sie später am Tresen sitzen, eine Halbe vor sich, mit schiefem Blick übers Glas gucken und sagen „solidarisch und schelmisch, soso, so geht des fei ned“ und dann nicht mehr aufhören zu lachen und zu waafen) und der Ahnung, wenn es hier ein bisschen ungemütlich wird, bleiben die alle seelenruhig. Ich bin dagegen immer etwas zu aufgekratzt und zu abgeklärt bei solchen Veranstaltungen. Ich denke gerne, es ist die angemessene (körperliche) Reaktion auf dieses routinierte, erstarrte Protestgebaren, dass in seiner Freudlosigkeit und Konsequenzlosigkeit so hart deutsch ist, aber das ist mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nur ein Teil der Wahrheit. Als wir den Abend schon fast abgehakt hatten, standen C. und ich in einer dunklen, gepflasterten Gasse und sahen den Höcke-Konvoi auf uns zu rasen. Ich machte einen Schritt auf die Fahrbahn, war aber zu feige, mich einfach in den Weg zu stellen. (Die hätten mich ja nicht über den Haufen fahren können. Höcke ist ja kein Staatsgast, die Personenschützer des LKA kein Secret Service, oder?) Der erste Wagen blendete auf, fuhr ziemlich knapp an mir vorbei. Ein SUV oder Range Rover oder Urban Jeep, wie auch immer diese durchgeschossenen Panzer heißen, machte einen größeren Bogen. C. fragte später, ob ich die Typen in den Autos gesehen hätte? Hatte ich nicht. Es ging alles zu schnell. Es war eine lächerliche Szene, aber sie lässt mich auch am Morgen danach nicht los. Als ich den Windzug der Wagen spüre, macht das Kopfkino klick: Staatsapparate, Legalität, Lager. Als wäre das alles ein fucking Film.

13. Feb. 20

Lese Altenburgs Geisterbahn und werde das erste Mal seit Wochen ruhiger. Wie sehr ich dieses grundlegende Einverständnis vermisst habe. Wie sehr mich Altenburgs Sätze darin bestärken, dass die Entscheidung richtig ist (mehr dazu irgendwann). Einzig T. packt mich und zieht mich aus dem Schlammassel. Aber sie sitzt hunderte Kilometer entfernt und versteht selbst nicht, was das sein soll: Universität? Wissen? Neugier? Leben? Zukunft? Das Jahr fing scheiße an. Kaum war ich aus Amsterdam zurück, erwischte mich eine heftige Erkältung. Wobei ich immer noch glaube, es war der vegane McDonalds Burger, den ich mir geholt hatte, weil ich keinen Bock auf Tankstellenpizza hatte und alle anderen Läden schon zu waren, als ich endlich in Bitchtown (Bezeichnung für BT, Ursprung vermutlich fränkische Hip Hop Szene, ca. Anfang 2000er Jahre) angekommen war. Ich sah den Typen, der ihn zubereitete und ich kann auch fast einen Monat später nicht sagen, warum ich den Burger gegessen habe. Aber auch wenn es Schwachsinn ist, dass alles seine guten Seiten hat, die zwei Wochen krank zuhause verbrachte ich mit Büchern. Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig ich kenne, wie viel ich nicht gelesen habe. Im Ernst, wie kann es sein, von Altenburg keine Ahnung zu haben, zu einer Zeit, in der es darum geht, in welche Richtung es geht? Also mit sagen wir mal: siebzehn. Wie auch immer: Partisanen der Schönheit, Die Liebe der Menschenfresser, Landschaft mit Wölfen, Die Toten von Laroque, Irgendwie alles Sex und eben Geisterbahn. Krass, wie gut das tut. In der letzten Sitzung des Marcuse-Seminars, das ich dieses Wintersemester anbiete, folgende Passage aus Geisterbahn vorgelesen: „Über ein paar Dinge ist ein vernünftiges Gespräch mit mir nicht zu führen: 1. Selbst für möglicherweise berechtigte Kritik an der israelischen Regierung fühle ich mich nicht zuständig. 2. Obwohl kein Pazifist mehr, gibt es kein Argument, dass mich davon überzeugen kann, Auslandseinsätze der Bundeswehr seien akzeptabel. Allein die Existenz eines deutschen Heeres, ja, eines unabhängigen deutschen Staates ist mir nicht geheuer. 3. Dass der Kapitalismus eine historische Errungenschaft ist, habe ich begriffen. Dass er das letzte Wort haben soll, wird mir niemand einsichtig machen können.“ (Altenburg 2012: 267) Wie sooft in Seminaren schauten mich die Studis an, als wäre ich ein seltsamer, alter Kauz. Und dann immer die Standardeinstellung, sorry, die Einzigen, die hier alt und seltsam sind, seid halt leider ihr. Wie alt so ein Gedanke, wie seltsam. Einzig gangbarer Weg wider die Standardeinstellung, die Langeweile, die eigene Grauheit und die der Welt: Lesen, Schreiben, (zu und mit T.) reisen, schönes Zeug machen. Jetzt aber erst mal: Raus in den Schneeregen, Maul aufreißen, durch Matsch und über Hügel rennen, bis das Herz bis zum Hals schlägt.

22. Mai 19

In den letzten Tagen habe ich viel über Pokémons gelernt. In den letzten Tagen habe ich viel über Menschen gelernt. An guten Tagen ist da wirklich der Glaube, ein Text könne den Lauf der Dinge verändern. An den restlichen Tagen kommt mir das Kotzen und die Leere schlägt um sich. In den Akten, die ich für meine Forschung durcharbeite, springen Menschen anderen Menschen auf den Köpfen rum. Die Täter waren zumeist zuvor nie gewalttätig. Ich beobachte Zufallsbegegnungen, in denen sich etwas bahnbricht, das seit Jahrzehnten schlummert. Alle sagen „man“.

26./27. Apr. 19

„Kein Loch in Augen“, sagte die Ärztin. Es klang so absurd richtig, dass ich lachen musste. Ich sah noch immer die Verästelungen der Adern, als ich die Praxis verließ. Ich schirmte meine Augen ab und lief durch die Innenstadt. Die Geschäfte machten gerade auf und plötzlich wurde alles grell und das Glücksgefühl schwarz. Als ich im Wartezimmer saß, las ich: „Der Tod besteht nicht darin / daß man sich nicht mehr mitteilen / sondern daß man nicht mehr verstanden werden kann …“ Ich hob den Kopf und sah mich um. Eine Frau mit einer Schleife auf dem Kopf schob einen Ständer voller Handtaschen mit goldenen Verschlüssen ins Freie. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Wie die Schönheit im konkreten Menschen sehen, wenn das Licht, das sich im Gold der Handtaschen vertausendfacht, ein Loch in die geweiteten Pupillen reißt? Als meine Jungs vor ein paar Tagen sagten, mein neuer Rucksack sei Killer, fühlte ich mich gut.

25. Apr. 19

Gestern habe ich mit jemanden über die „Standortgebundenheit des Denkens“ gesprochen. Das ist kein aufregender Satz, denn in den letzten Jahren wird an Hochschulen sehr viel über die Standortgebundenheit des Denkens gesprochen. Es wäre schwachsinnig zu leugnen, dass es so etwas wie einen eurozentristischen Blick gibt. Ebenso wäre es schwachsinnig zu leugnen, dass Männer privilegiert sind, vor allem dann wenn sie weiß sind. Was aber ist zu tun? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es keine Antwort sein kann, die Suche nach Wahrheit für obsolet zu erklären. Gerade flog eine Meise in mein Zimmer, setzte sich auf meinen Plattenspieler und laberte mich zornig von der Seite an, als ich mich ihr zuwendete. Im letzten Sommer ist eine Elster über den Balkon in mein Zimmer gelaufen. Als sie mich sah, flog sie davon. Ich legte Brötchenreste auf den Balkon und einige Zeit später lag dort, wo ich die Brötchenreste hingelegt hatte, ein rosa Plastikstück. Dieses ganze Identitätsgequatsche ist so ermüdend. Ich bin doch nicht einmal mit mir selbst identisch. Heute glaube ich daran, in der Natur Ruhe zu finden. Und morgen lese ich über ein Erdbeben oder eine Spinne groß wie eine Fingerkuppe, deren Gift in weniger als fünf Minuten tötet. Was will mir eine Elster sagen, wenn sie mir ein rosa Plastikstück auf den Balkon legt? Da sind zu viele Metaebenen im Spiel gerade und zu wenig basics. Danke, Bitte, Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Und: Nein, ich muss nicht für alles und jeden Verständnis aufbringen.