In der heutigen FAS ist eine Rezension von Johannes Franzen zu Moritz von Uslars Nochmal Deutschboden abgedruckt, die in ihrer „Gleichförmigkeit“ deutlich deutscher ist als die Kleinstadt Zehdenick, in die von Uslar nach zehn Jahren zurückgekehrt ist. Ich verzichte auf eine Inhaltsangabe des Buchs wie auf eine detaillierte Kritik der Kritik (leider hart vorhersehbar: Ranschmeißen an Arschlöcher und Typengehabe, Verharmlosung von Rassismus, Sexismus usw.), denn draußen scheint die Sonne, und komme direkt zum entscheidenden Punkt.
Der entscheidende Punkt ist, wie es Pasolini formulierte, dass der Tod eines denkenden, schreibenden Menschen nicht darin besteht, sich nicht mehr mitteilen zu können, sondern nicht mehr verstanden zu werden. Nun scheint es zwei Hauptdeutungen zu geben, was unter ‚verstanden werden‘ zu verstehen ist. In der einen Deutung wird Verstehen daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Erfahrungen gleichen; wobei Erfahrungsfähigkeit mal mehr mal weniger stark an unveränderliche Merkmale gebunden wird. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil du erfahren hast (nicht erfahren hast), was ich erfahren habe. In der anderen Deutung wird Verstehen vor allem daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Haltungen – oder altmodisch gesprochen: Ideologien – gleichen. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil die Brille, durch die du auf die Welt guckst, der Brille gleicht (nicht gleicht), mit der ich auf die Welt gucke. Aber anstatt beide Deutungen als miteinander verwoben zu betrachten und ihre wechselvolle, also lebendige, Beziehung als unhintergehbare Denkvoraussetzung zu begreifen, werden Mauern hochgezogen. Die Deutungen schließen sich aus. Eine (stille, innere) Übereinkunft zwischen einem bäuerlichen Küstenmenschen, der nie gelernt hatte, zu lesen und zu schreiben und einem homosexuellen Dichter, der nie gelernt hatte, ein Fischernetz zu knüpfen, die vor dem tosenden Meer stehen, war bei Pasolini nicht nur prinzipiell möglich, sondern ‚natürlich‘. Denn was die beiden verbinden konnte, war etwas, das außerhalb ihrer selbst lag. In diesem Fall das Meer. Sofort wird es aber schwierig. Der Dichter besingt das Meer, bis der Küstenmensch rasend vor Wut von den Menschen spricht, die das Meer gefressen hat. Aber was folgt? Sicher ein paar harte Worte. Sicher Missverstehen. Aber dann, so spinnt sich die Allegorie in meinem Kopf fort, kehrt Ruhe ein. Beide betrachten das Meer und wissen um Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit, die Bauer und Dichter gemeinsam sind.*
Was zur Hölle hat das nun alles mit Franzens Rezension und von Uslars Nochmal Deutschboden zu tun?
Klar, in von Uslars Buch stehen ungenaue Sätze, auch Sätze, die mich sau aufregen (das letzte Kapitel z. B. nervt). Ich habe beim Lesen geflucht, gelacht und vor Freude laut vor mich hin gelabert. Aber ich ‚verstehe‘ sein Buch, weil es einen Punkt außerhalb anpeilt: Die Frage, was für Menschen – ja sogar für rassistische Kleinstadtarschlöcher – so universelles Zeug wie Zurechtkommen, Arbeit, Angst, Sehnsucht oder Liebe bedeutet. Uslar fragt, wie dass denn alles zusammen geht. Er steckt in einem männlichen Reporterkörper, aber sein Text kreist nicht um ihn wie die Erde um die Sonne, wie das Franzen behauptet. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt. Franzens Rezension bestätigt, was vorher feststeht: Der sich nach Prolligkeit/Authentizität sehnende Reporter von Uslar schreibt ein eindimensionales Buch über Prolls, weil er das als Mann eben kann. Das ist mit Verlaub: Bullshit. Es ist Uslars Buch, nicht Franzens Rezension, das Gewissheiten aufzubrechen hilft. Nicht zuletzt, weil es immer wieder implizit die Frage aufwirft, inwieweit heute die Vorstellung, Verstehen nach den Kriterien der Erfahrung oder der Ideologie zu sortieren, in die Irre führen kann. Nicht weil die Kriterien falsch sind, sondern weil ‚unser‘ Wirklichkeitsbezug (durch Erfahrung und Ideologie vermittelt) bröckelt. Wir stehen eben nicht getrennt und doch gemeinsam vor dem brausenden Meer und halten die Fresse, sondern sitzen vor unseren Laptops und tippen wirres Zeug, in unserem Rücken eine Wand mit Ozeantapete.
Die eine Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist diese: Da ist nix außerhalb. Oder anders formuliert: Da ist nix Unverbrauchtes, Neues, Hoffnungsvolles außerhalb, etwas, das wir teilen könnten, von wo aus wir unseren Selbstbezug einordnen und unsere Schwachsinnigkeit wenigstens ein bisschen aufhellen können. Da sind nur die immergleichen Angebote: Gott (tot), Familie (kaputt), Nation/DDR/Volk (holy f***), Vergangenheit (vorbei), ICH (oh yeah).
Die andere Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist aber diese: Es gibt sie, die seltenen Momente, in denen Menschen, die sich in ihrer Lebenswirklichkeit völlig fremd sind, (still, innerlich) übereinstimmen. Da kann eine plötzliche Nähe aufblitzen, die das Misstrauen außer Kraft setzt und wenn nur für Sekunden. Dafür braucht es, auch wenn es so vieles einfacher macht, nicht einmal das Meer. Hier könnte das Denken (und eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit von Uslars Buch) einsetzen. Gefragt werden müsste: Was ist es, was es noch nicht gibt, das uns verbindet? Und kann daraus ein Zusammenleben gebaut werden, in dem Unterschiedlichkeit und Differenz bei niemandem Angst, Wut oder Hass auslösen, sondern Neugier?
* Falls jemand Pasolini Experte ist (ich bin es nicht): Die Bauer-Dichter-Meer-Szene habe ich mir ausgedacht, erfunden ist sie aber nicht.