25.04.2025

Gestern am Institut und im Verlag vorbeigeschaut. Ich schreibe diesen Satz von einem anderen Universum aus. Ich bin kein Autor, ich habe kein Buch veröffentlicht, was soll das alles. Ich habe keinerlei Vorstellung, wie ich hier gelandet bin. Das Buch ist ein Jahr alt. Ich freue mich S. zu sehen. Dank ihr habe ich ein ungenaues Unterkapitel gestrichen. Kann ein ganzes Unterkapitel ungenau sein. Ja, es kann. Raus damit. Ich schreibe und sage „ich“. Davon hat mich Howard Becker überzeugt. Aber im Buch war zu viel „ich“. Da ist immer zu viel „ich“. An jedem Tag verschlucke ich mich am „ich“. Ein gutes Buch braucht ein „ich“, aber das „ich“ muss daran erinnert werden, worum es geht. Kein Wort ist unantastbar. Dank S. wurde der Text klarer. Sie fragt nach meinem Vater, nach meinem Bruder. Aber vorher erzähle ich ihr von E. Er stellt unsere Welt auf den Kopf. S.s Freude ist direkt und groß. Das tut gut. Der nächste Eintrag auf einer Liste mit dem Titel „Warum ich gerne noch ein Buch mit S. machen würde“. Nach S., dann zu I. Fröhliches, etwas wackliges Gespräch, auch physisch. Sie zieht sich in sich zurück, dann schnallt sie nach vorne. Also nicht weit, nur so ein kleiner Ruck. Das macht Freude und verwirrt mich. Ich rede unzusammenhängend, verliere den Faden. Ich möchte einen Elterngeld-Witz machen und spreche abfällig über Alster-Immobilien-Typen. I. schweigt. Ich werde mich den Rest des Tages fragen, ob ich zu vulgär war, ob sie jemandem nahe steht, der mit Immobilien zu tun hat, oder ob mein Kopf verrücktspielt und sie einfach nur kurz weg war in Gedanken. So wie alle Menschen. Weiter zum Direktor. Auch mit ihm Interaktionstanz. Fränkisch-knochiges Hin und Her. Fühle mich gut, eingegroovet geht es zu J. Er ist der herzlichste Mensch, den ich im Wissenschaftsbetrieb kenne. Allein wegen seiner Zugewandtheit dürfte das Institut nicht geschlossen werden. Seine Augen leuchten noch heller als sowieso schon, als ich ihm von E. erzähle. Wir sprechen über die Bitcoin-Veranstaltung am Abend, zu der Mangold von der Zeit sicher nicht auftauchen wird. Aber wenn doch, sage ich zum Abschied zu J., dann klau ihm sein Einstecktuch. Fünfzehn Minuten mit J. und ich will sofort losschreiben, mit Leuten streiten und lachen. So fahre ich dann auch Fahrrad: Schlangenlinien, Gesicht zur Sonne, keinen Plan von nix, aber zuversichtlich, dass da noch was kommt.

23.04.2025

Jeden Tag ein neuer Eintrag, so lautete das Vorhaben. Nix da. Nach eineinhalb Tagen die Latte gerissen. Was für eine Latte? Etgar Keret schreibt von einer (seiner?) Morgenlatte: „Ziemlich erstaunlich, dass jemand in deinem Alter noch jeden Morgen mit einem so unbändigen Drang wach wird, die Welt zu ficken.“ Sein neuer Band mit Kurzgeschichten ist so gut, mein Herz hüpft vor Glück. Bei jedem Umblättern. In den Erzählungen geht es um das Im-Hier-und-Jetzt-Sein. Das klingt wie ein dämlicher Kalenderspruch. Doch die Texte sind ein großes, trauriges, menschenzugewandtes Fuck you an eine Welt, in der sich die Fähigkeit unmittelbar zu fühlen in Luft aufgelöst hat. Alles Simulation. I feel you, Etgar. I love you.

20.04.2025

Gestern marschierten Menschen für den Frieden auf der Welt durch deutsche Landschaften. Heute ist Hitlers Geburtstag. Pohrt hätte a und b verknüpft und einen Text verfasst, der einen klüger macht. Ich kann sowas nicht. Aber zum Glück kann ich auch etwas anderes nicht: neidisch sein auf die, die klüger sind als ich. Mich kotzen die Söhne an, die links und rechts vorbeiziehen, um der Welt, so wie es ihre Väter prophezeit hatten, ihren Stempel aufzudrücken.

Vor einigen Wochen waren T. und ich bei der Jahresausstellung der HFBK. Ich staunte über das Licht, das durch riesige Fenster in die Räume fiel. Hier wollte ich arbeiten, schreiben. Ich erinnere mich an kein einziges Bild, kein Foto, keine Installation. Nur an das Licht und an den Kontrast zwischen der Performance der aufstrebenden Künstler*innen-Körper und der Talent- und Mutlosigkeit der ausgestellten Werke. Null Notwendigkeit, null Freude. Anti-Israel-Deklarationen an den Wänden und Bierflaschen in den Gängen.

Schreibe ich sowas, weil ich neidisch bin? Siehe oben.

wo ist gott?

08.03.2025

„Wir haben Glanz und Kraft, wir können Grandezza und Catenaccio“, labert Markus Söder. Ich denke an Paolo Maldini, den AC Mailand und Silvio Berlusconi. An die vollgepissten Badezimmerfliesen im Hostel. An den Norden, an den Süden. An die heruntergekommene Promenade Brancaleones. An das schwarze Haus am Ende der Straße. An das verlassene Hotel, die futuristischen Gebäude und die Gärten, in denen Bäume schlangenhaft in den Himmel wachsen. Ich sehe den alten Mann und seine hinter dem Rücken verschränkten Hände. Ich rieche den Rauch, ich höre das Meer. Sehe die jungen Menschen, in der Dunkelheit Volleyball spielen.

03. Januar 23

I.

Selbstverständlich hatten die Bullen danebengeschossen.
Erster Satz des Romans.
„…and then go out and try to get myself some glory.“[Anatole Broyard, The Literature of Death, in: Intoxicated by my Illness, p. 84]

II.

„In Deutschland wird sich von rechts angestellt“, sagt die Frau. Am dritten Tag des neuen Jahres möchte ich Amok laufen. Sie kriegt sich gar nicht ein, sucht, als ich den Laden verlasse, Blickkontakt. In ihren Augen bin ich der Schuldige. Ich zögere, erwidere nix und gehe. Sie wird den restlichen Tag über die falsch positionierte Schlange reden und ich werde über ihre Stachelschweinfrisur schreiben. Verhindert zu schreiben, Amok zu laufen? Macht schreiben glücklich? Bin ich glücklicher als die Frau?

III.

Seit Wochen fotografiere ich Krähen. Fukase dreht sich im Grab um.

[a guest]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

12. April 20

Auf dem Geländer meines Balkons landen ein Amselweibchen, ein Amselmännchen und eine Taube. Sie fressen die Körner, die ich verstreue und werden jeden Tag zutraulicher. Eine Meise fliegt in das Zimmer und setzt sich auf die Couch. Der Raubvogel dagegen kommt nicht mehr.
In einem der Nachbargärten versuchen Mutter und Vater, und ab und an ihr Sohn, einem jungen Hund Gehorsam beizubringen. Die Frau ruft: „Early, apport!“ Aber noch ist der Hund nicht versaut und kackt lieber in den Garten.
Einen Garten weiter, der zu einer Villa gehört, die unverbunden inmitten der 60iger Jahre Häuschen steht, mäht ein Mähroboter das Gras.

Am Ostersonntagmorgen, als ich in zwei Decken gehüllt um sieben Uhr auf dem Balkon frühstückte, war das elektrische Summen der Maschine das einzige Geräusch. Erst war mir das Summen gleichgültig, dann bohrte es sich in meinen Kopf, bis die um die Hausecke wandernde Sonne das Summen still stellte.
Später saß ich auf einem Hügel und las. Die Wolken schoben sich ineinander, doch bildeten nie eine geschlossene Decke. Immer wenn ich vom Buch aufblickte, war Licht, wo vorher keines war.
Auf dem Weg nach Hause tanzte ein Mädchen auf dem Fahrradweg. Sie bemerkte mich nicht, aber ihre beiden Schwestern hatten gesehen, dass ich sie beobachtete. Sie lachten und als das Mädchen begriff, warum ihre Schwestern lachten, hielt sie inne, entschied, dass nicht Tanzen, sondern Innehalten albern ist, tanzte weiter und lachte mich an, als ich an ihr vorbeifuhr. Ihr ganzes Gesicht war Glück.

05. April 20

In der heutigen FAS ist eine Rezension von Johannes Franzen zu Moritz von Uslars Nochmal Deutschboden abgedruckt, die in ihrer „Gleichförmigkeit“ deutlich deutscher ist als die Kleinstadt Zehdenick, in die von Uslar nach zehn Jahren zurückgekehrt ist. Ich verzichte auf eine Inhaltsangabe des Buchs wie auf eine detaillierte Kritik der Kritik (leider hart vorhersehbar: Ranschmeißen an Arschlöcher und Typengehabe, Verharmlosung von Rassismus, Sexismus usw.), denn draußen scheint die Sonne, und komme direkt zum entscheidenden Punkt.

Der entscheidende Punkt ist, wie es Pasolini formulierte, dass der Tod eines denkenden, schreibenden Menschen nicht darin besteht, sich nicht mehr mitteilen zu können, sondern nicht mehr verstanden zu werden. Nun scheint es zwei Hauptdeutungen zu geben, was unter ‚verstanden werden‘ zu verstehen ist. In der einen Deutung wird Verstehen daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Erfahrungen gleichen; wobei Erfahrungsfähigkeit mal mehr mal weniger stark an unveränderliche Merkmale gebunden wird. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil du erfahren hast (nicht erfahren hast), was ich erfahren habe. In der anderen Deutung wird Verstehen vor allem daran gekoppelt, inwieweit Menschen sich aufgrund von Haltungen – oder altmodisch gesprochen: Ideologien – gleichen. Gesagt wird, du kannst mich verstehen (du kannst mich nicht verstehen), weil die Brille, durch die du auf die Welt guckst, der Brille gleicht (nicht gleicht), mit der ich auf die Welt gucke. Aber anstatt beide Deutungen als miteinander verwoben zu betrachten und ihre wechselvolle, also lebendige, Beziehung als unhintergehbare Denkvoraussetzung zu begreifen, werden Mauern hochgezogen. Die Deutungen schließen sich aus. Eine (stille, innere) Übereinkunft zwischen einem bäuerlichen Küstenmenschen, der nie gelernt hatte, zu lesen und zu schreiben und einem homosexuellen Dichter, der nie gelernt hatte, ein Fischernetz zu knüpfen, die vor dem tosenden Meer stehen, war bei Pasolini nicht nur prinzipiell möglich, sondern ‚natürlich‘. Denn was die beiden verbinden konnte, war etwas, das außerhalb ihrer selbst lag. In diesem Fall das Meer. Sofort wird es aber schwierig. Der Dichter besingt das Meer, bis der Küstenmensch rasend vor Wut von den Menschen spricht, die das Meer gefressen hat. Aber was folgt? Sicher ein paar harte Worte. Sicher Missverstehen. Aber dann, so spinnt sich die Allegorie in meinem Kopf fort, kehrt Ruhe ein. Beide betrachten das Meer und wissen um Bedeutungslosigkeit und Vergänglichkeit, die Bauer und Dichter gemeinsam sind.*

Was zur Hölle hat das nun alles mit Franzens Rezension und von Uslars Nochmal Deutschboden zu tun?

Klar, in von Uslars Buch stehen ungenaue Sätze, auch Sätze, die mich sau aufregen (das letzte Kapitel z. B. nervt). Ich habe beim Lesen geflucht, gelacht und vor Freude laut vor mich hin gelabert. Aber ich ‚verstehe‘ sein Buch, weil es einen Punkt außerhalb anpeilt: Die Frage, was für Menschen – ja sogar für rassistische Kleinstadtarschlöcher – so universelles Zeug wie Zurechtkommen, Arbeit, Angst, Sehnsucht oder Liebe bedeutet. Uslar fragt, wie dass denn alles zusammen geht. Er steckt in einem männlichen Reporterkörper, aber sein Text kreist nicht um ihn wie die Erde um die Sonne, wie das Franzen behauptet. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt. Franzens Rezension bestätigt, was vorher feststeht: Der sich nach Prolligkeit/Authentizität sehnende Reporter von Uslar schreibt ein eindimensionales Buch über Prolls, weil er das als Mann eben kann. Das ist mit Verlaub: Bullshit. Es ist Uslars Buch, nicht Franzens Rezension, das Gewissheiten aufzubrechen hilft. Nicht zuletzt, weil es immer wieder implizit die Frage aufwirft, inwieweit heute die Vorstellung, Verstehen nach den Kriterien der Erfahrung oder der Ideologie zu sortieren, in die Irre führen kann. Nicht weil die Kriterien falsch sind, sondern weil ‚unser‘ Wirklichkeitsbezug (durch Erfahrung und Ideologie vermittelt) bröckelt. Wir stehen eben nicht getrennt und doch gemeinsam vor dem brausenden Meer und halten die Fresse, sondern sitzen vor unseren Laptops und tippen wirres Zeug, in unserem Rücken eine Wand mit Ozeantapete.

Die eine Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist diese: Da ist nix außerhalb. Oder anders formuliert: Da ist nix Unverbrauchtes, Neues, Hoffnungsvolles außerhalb, etwas, das wir teilen könnten, von wo aus wir unseren Selbstbezug einordnen und unsere Schwachsinnigkeit wenigstens ein bisschen aufhellen können. Da sind nur die immergleichen Angebote: Gott (tot), Familie (kaputt), Nation/DDR/Volk (holy f***), Vergangenheit (vorbei), ICH (oh yeah).

Die andere Ahnung, die in von Uslars Buch steckt, ist aber diese: Es gibt sie, die seltenen Momente, in denen Menschen, die sich in ihrer Lebenswirklichkeit völlig fremd sind, (still, innerlich) übereinstimmen. Da kann eine plötzliche Nähe aufblitzen, die das Misstrauen außer Kraft setzt und wenn nur für Sekunden. Dafür braucht es, auch wenn es so vieles einfacher macht, nicht einmal das Meer. Hier könnte das Denken (und eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit von Uslars Buch) einsetzen. Gefragt werden müsste: Was ist es, was es noch nicht gibt, das uns verbindet? Und kann daraus ein Zusammenleben gebaut werden, in dem Unterschiedlichkeit und Differenz bei niemandem Angst, Wut oder Hass auslösen, sondern Neugier?

* Falls jemand Pasolini Experte ist (ich bin es nicht): Die Bauer-Dichter-Meer-Szene habe ich mir ausgedacht, erfunden ist sie aber nicht.

01. April 20

Eine Herde wilder Kaschmir-Ziegen wurde in den Straßen Llandudnos gesichtet. (Ich wusste weder, dass es eine Tierart namens wilde Kaschmir-Ziegen gibt, noch hatte ich Kenntnis von einem Ort namens Llandudno. Krass, diese Wirklichkeit.)

Seit zwei Tagen sitzt am Vormittag ein Greifvogel im Baum neben meinem Balkon. Ich kann ihn nicht sehen, er sitzt in der von mir abgewandten Seite der Baumkrone und die Nadeläste sind zu dicht. Ich höre seine Rufe, kann aber kann nicht erkennen, um was für ein Tier es sich handelt.
Am Sonntag kreiste ein großer Vogel über dem Tümpel in den Mainauen. Er hatte graue Flügel (ich schlug später die richtige Bezeichnung nach: Armschwingen), schwarze Flügelspitzen (Handschwingen) und einen breiten hellgrauen Stoß. Ich hielt ihn für einen Fischadler und starrte gebannt in den Himmel.

Das letzte Mal hatte ich Fischadler während einer Reise entlang der amerikanischen Ostküste gesehen. Dutzende kreisten über der abgefucktesten Stadt, in der ich jemals war: Jacksonville. Es gab dort einen Buchladen, der irre schön war. Amerika. Direkt nebeneinander existieren absolute Kaputtheit und größtmögliche Schönheit. Als mich in Philadelphia der Besitzer eines Second-Hand-Bookstores fragte, was ich über das Land erfahren hatte, antwortete ich: „Two people sitting next to each other in the New York Subway, one with the most lively eyes I have ever seen, full of strange kindness and joy, the other one with the saddest eyes I have ever seen, broken, close to death.”

Ich fragte einen Mann, der den Flug des Vogels mit einem Fernglas verfolgte, ob es ein Fischadler sei. Er machte Anführungszeichen in der Luft und sagte: „Ist ‚nur‘ eine Rohrweihe.“ Später musste ich den Mann erneut ansprechen. Ich war mir, nachdem ich ihn gefragt hatte, nicht mehr sicher, ob ich „Ist das ein Fischadler?“ oder „Ist das ein Seeadler?“ gefragt hatte. Seeadler in Bayreuth zu sehen ist entweder ein Anzeichen für eine Wahnvorstellung oder für Ignoranz. Ich fühlte mich dumm und wollte das Bild, das der Mann von mir haben musste, geraderücken. (Was ja wiederum auf eine ganz eigene Art von Dummheit verweist.) Zu meiner Überraschung sagte er: „Du hast Fischadler gesagt. Aber einen Seeadler habe ich hier auch schon gesehen. Aber nur ganz oben am Himmel, beim Drüberflug.“ (Noch krasser, diese Wirklichkeit).

In Theodor Mebs` Greifvögel Europas und die Grundzüge der Falknerei ist über die Rohrweihe zu lesen: „Der Spähflug über den wogenden Schilffeldern ist ein sehr wendiges, schwankendes Dahingleiten, Absinken und Aufsteigen“ (1982, S. 58).
Ja, genau! Genauso hatte das ausgesehen!

Ich schreibe und verfolge mehr oder weniger parallel dazu (Celo & Abdi Voice) das letzte Trump-Briefing zum vormals „Chinese Virus“, jetzt: „Deadly Virus“. Es liegt ein Adjektiv zwischen Allmachtsfantasien und Ohnmachtsarrangement.

Dann suche ich nach einer Passage in Detlef Kuhlbrodts Umsonst & Draußen, die ich ein paar Tage zuvor gelesen hatte und die, wie es bei im Gedächtnis bleibenden Textstellen so ist, über ihren konkreten Zusammenhang hinausreicht, ohne dass derjenige, der die Stelle gelesen hat, den Kontext, aus dem sie ursprünglich stammt, vergessen wird: „Dies ist ja alles wirklich, die Toten, die Grausamkeit der Tode, die Vorwürfe, die man sich automatisch macht, und gleichzeitig lebt man ja hier, geht es ja hier darum, dass man versucht, so sorgfältig wie möglich zu handeln, »bewusster« zu leben, die eigenen Probleme in den Griff zu kriegen, »mehr auf sich zu achten«, sich nicht von der Vergangenheit auffressen zu lassen, nicht von ihr davonzulaufen, sein Leben zu ändern, eine Vorstellung zu entwickeln von dem, was man eigentlich will, sich in die Zukunft zu werfen usw. usf.“

Usw. usf.

26. Mrz. 20

In Dorothea Dieckmanns Buch Kinder greifen zur Gewalt findet sich eine Passage, die, obwohl sie um ein anderes (?) Problem kreist, den Zustand der deutschen Linken, beschreibt: „Zwischen den Markierungen gähnen Abgründe, aber heutzutage ist man ein guter Springer, man probiert alles aus und bildet Gruppen und Gruppenableger und Mischgruppen, ihre Anzahl geht gegen unendlich, die Gruppenstärke Richtung eins“ (1994, S. 72). Sofort muss ich an C. denken, wie er mir von Demos erzählt, in denen Grüppchen, die ihre ach so unverwechselbare Suppe kochen, Seit an Seit laufen, ohne ein Lächeln über den Tellerrand, das verbinden könnte.
Ob sich dieselben Fragen nach Corona anders stellen? Wird es eine Lücke geben, durch die Wind dringt und Gewissheiten aufwirbelt? Oder kommt es zur handelsüblichen Verhärtung des Dings, das wir noch immer gewohnt sind, Herz zu nennen?

In einem der Gärten, die ich von meinem Schreibtisch aus sehen kann, stutzt ein Mann eine Hecke mit einer Akkuheckenschere. Er hält inne und redet mit dem Gewächs. Mich überrascht nicht, dass er das tut. Mich überrascht, aber auch eher schulterzuckend, dass es mich schon gar nicht mehr überrascht. Dann sehe ich, dass eine Frau auf der Terrasse steht und gestikuliert. Ich frage mich, was Mann und Frau, die von beiden Seiten auf die Hecke einreden, zu ihr sagen: Wie gut Dir der neue Look steht! Oder: Jetzt schaust Du endlich wieder wie eine Hecke aus. Oder: Sei doch nicht so, sind doch nur ein paar Ästchen.
Plötzlich lachen der Mann und die Frau los, was mich aus der Bahn schießt. Es könnte ja wirklich sein, dass die beiden gerade Spaß miteinander haben und, nachdem sie noch das Unkraut aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen entfernt haben, erfüllt und glücklich übereinander herfallen.

Vielleicht wird es nach Corona auch darum gehen müssen, dem Gegenüber etwas anderes zu unterstellen als sein Deutsch-Sein, seine Marktförmigkeit, seine Abgelebtheit.

Aber wie macht man das? Wie stellt man Fragen, die Fragen sind und keine Pseudo-Fragen? Kurz: Wie denkt, spricht, schreibt man weniger Scheiß?*

And: Who the fuck is ‚man‘?

* Noch dazu unter erschwerten Bedingungen, die nur bedingt auf Corona zurückzuführen sind: „Polizeieinsatz wegen Klopapier: Kundin setzt sich auf Kassenband“ (GMX); „Till Schweiger ist wütend“ (GMX) …

24. Mrz. 20

Seit gestern ist es mir nicht gelungen, Fotos zu skalieren, damit sie unter den Text passen. Egal, was ich versuche, die Fotos werden zu groß abgebildet. Das Skalieren wirkt sich einzig auf die Schärfe des Bildes, nicht auf das Format aus.
Ich scheitere mehrfach bei dem Versuch in das Worddokument meiner Diss ein Inhaltsverzeichnis, das ich per Klick und nicht per Hand aktualisieren kann, einzufügen. Als es endlich gelingt, mache ich Atemübungen, anstatt zu schreien.
Vor dem Lockdown war ich zum Arbeiten in die Stadtbibliothek gegangen. Der Laptop blieb im Rucksack, ich exzerpierte handschriftlich, hielt inne, freute mich über die Figuren, die den 3. Stock der Stadtbibliothek bevölkern, und kam in zwei Wochen besser voran als die gesamten matschigen Monate zuvor.
Allerorts und immerzu wird gepredigt, dass Schulen und Universitäten für das „digitale Zeitalter fit gemacht“ werden müssen. Die Predigten und damit die Programme werden in der Zeit nach Corona exponentiell anwachsen. Auf die „Fragen der Zeit“ (bullshitsprech part II) wird mit Technik, Vernetzung, Gleichzeitigkeit geantwortet werden. Ich arbeite seit fünf Jahren an einer Universität und auch wenn ich nichts weiß, weiß ich das: Die einzig sinnvolle Infrastrukturmaßnahme (in Gegenden, in denen der Zugang zum Internet möglich ist), die an Universitäten, Schulen und in jedem Stadtviertel weltweit sofort umzusetzen ist, besteht in der Errichtung eines Gebäudes, das 1.) über keinen Zugang zum Internet verfügt, in das 2.) exakt ein Buch, ein Notizheft und ein Bleistift mitgebracht werden dürfen und das 3.) über einen Innenhof verfügt, in dem Wasser fließt, Bäume wachsen (in Kaltland: Waldkiefern, diese wunderschönen anarchistischen Nadelbäume) und Vögel fliegen. Und in der Mitte auf einem Stein sitzt ein dicker Mönch, der biertrinkend und in sich ruhend, die Kunst des Bogenschießens praktiziert, sobald irgendjemand meint, in einen fucking Apfel beißen zu müssen.

Mein Lockdown-Paradies erbaut in der Zwischenzeit T.: „Du musst mit dem Whiskey in der Dusche schmusen und den Hintern kraulen. Ich glaube, dass das sinnvoll ist.“