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»Er [Ken Schels, Anm. d. Verf.] fragte nicht, wie andere fotografierten, sondern versuchte anhand des eigenen Werks aus dreißig Jahren zu ergründen, welche Einflüsse seine Sicht auf die Welt bestimmt haben.«
Freddy Langer über Ken Shels‘, A New History of Photography, S.144
Ich werfe eine Münze: Bei Zahl »foot in the door«, bei Kopf »door in the face«. Kopf.
Wann haut ein Buch eine/n um?
Ein paar Vorschläge: Wenn die Beobachtungs- und Beschreibungsfähigkeit des Autors für die Widersprüche des Lebens empfindsam macht. Wenn die Autorin in einer Sprache schreibt, die präzise, aber nicht hermetisch ist. Wenn da ein Schreibenmüssens im Text steckt, das sich aus so verschiedenen Quellen wie Verdruss und Neugier, aus Gesellschaftsekel und Menschenzugewandheit, aus Verzweiflung und Hoffnung speisen kann. Wenn das Buch zu anderen Autor:innen und anderen Büchern führt. Und wenn es uns auch noch nach Jahren umhauen wird. All das gilt – auch wenn ich hinsichtlich des letzten Punktes nur eine totsichere Vorhersage treffen kann – für Freddy Langers »Harte Blicke, stille Städte und ein Fotograf, der zur Rakete wird« (Steidl Verlag, 2023), eine Sammlung von einhundertdreißig Besprechungen von Fotobüchern, die der Autor in der Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlicht hat.
Zwar hoffe ich, dass die Begeisterung, die im ersten Absatz steckt, Grund genug ist, neugierig auf das Buch zu werden und die Rezension weiter zu lesen. Doch damit Sozialwissenschaftler:innen, deren Lektürebereitschaft sich nach den Anforderungen des Betriebs richtet, an dieser Stelle nicht abbrechen, ein kleiner Teaser: Freddy Langer stellt in seinen Besprechungen eine analoge Frage, die Raymond Geuss in seinem Buch »Nicht wie ein Liberaler denken« aufwirft: Was ist das autobiographische Element der Arbeit und wie wirkt es sich in ihr aus? In der Suche nach Fragen und Gegenständen, in den methodischen wie theoretischen Zugängen.[1]
Auch Howard S. Becker wirft am Ende seines Textes »Sociology and Photography«[2] die Frage nach der persönlichen Komponente im Tun auf, gibt ihr aber einen anderen Dreh. Becker zeigt in Auseinandersetzung mit zwei Fotografen (Paul Strand/Frank Cancian), wie Stilmittel, die die beiden Fotografen in von ihnen aufgenommen Porträts einsetzten, Aufschluss über die persönliche Komponente ihrer Werke geben. Um dann zu fragen, ob man auf vergleichbare Weise die persönliche Komponente in der soziologischen Arbeit entdecken könne. Becker deutet an, dass uns die Wahl von Adjektiven etwas über diese mitteilen kann. Oder die Mittel, mit denen ein Autor Ironie erzeugt (»Goffman, for instance, often achieves ironic effects by using perspective by incongruity […]«). Es geht Becker also darum, wie in Stilmitteln (»stylistic/expressive devices«) Attitüden, Weltzugänge oder moralische Urteile enthalten sein können (S. 23 f.).
Es ist nun dieser Aspekt der die Lektüre des Buchs Freddy Langers für Sozialwissenschaftler:innen – aber nicht nur für diese, sondern für alle, die in ihrer Arbeit mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, der Standortgebundenheit des eigenen Denkens zu begegnen – so interessant macht. Man kann den Band hinsichtlich ganz verschiedener Fragen lesen, aber der Kerngedanke, der die Besprechungen miteinander verbindet, scheint mir darin zu bestehen: Es geht um die Entdeckung der persönlichen Komponente im Werk von Fotograf:innen. Aber eben nicht als eskapistische Spielerei, sondern mit wirklichem Interesse an den Lebenstatsachen und an der Frage, wie sich diese in der Arbeitsweise und dann in den Resultaten, den Fotografien, ausdrücken. Langers Überlegungen lassen dabei auch erahnen, dass es ein Mangel ist, wenn sich nichts Persönliches im fertigen Abzug wiederfindet.
Das Schöne ist, dass Langer eine ethnographische Neugier hat. Er kommt wohl nicht so sehr von Homer, sondern eher von Louis Faurer.[3] Und, wer weiß, vielleicht auch von der Chicago School of Sociology. In der Besprechung des ikonischen Fotobands »Die Amerikaner« von Robert Frank beschreibt Langer, wie der Kontaktbogen Auskunft darüber gibt, wie sich der Fotograf seinen Motiven angenähert hat. »Fast wie ein Schriftsteller«, so Langer über Frank, »mit seinen Formulierungen kämpft, erprobte auch er mal diese, mal jene Vokabel, bis er die gewünschte Präzision erreichte, die angestrebte lyrische Dichte« (S. 133). In vielen der Besprechungen geht es um die persönliche Art der Annäherung von Fotograf:innen an ihre Sujets.
Wenn Langer Helen Levitt[4] mit der Formulierung wiedergibt, »sie sei an den Szenen gewissermaßen vorübergetänzelt« (S. 279), dann entsteht im Kopf sofort eine Verbindung zwischen den Bildern Levitts und ihrer Art sich durch die Stadt zu bewegen. Es gibt kein treffenderes Verb. Levitt tänzelte an den Menschen und Szenen, die sie fotografierte, vorüber. Ich dachte immer, dass die Menschen, oftmals sind es Kinder, auf Levitts Fotografien wirkten, als würden sie tanzen. Aber mit Langer kann die Frage anders gestellt werden: Wie viel davon geht auf Levitts Art sich zu bewegen zurück? Tanzen die Menschen auf ihren Bildern, weil Levitt an ihnen vorübertänzelte?
Ich habe mich zwar damit auseinandergesetzt, wie ich mich als Soziologe körperlich-leiblich durch die soziale Welt bewege (bewegen kann) und welchen Einfluss das darauf hat, wie ich beobachten und mit Menschen in Kontakt kommen kann, aber viel zu wenig damit, dass die Art, wie ich mich bewege, einen Einfluss darauf hat, wie ich schreibe. Dass Helen Levitt an den Szenen vorübertänzelt und nicht etwa an einer Straßenecke auf das richtige Motiv oder das richtige Licht wartet, sieht man ihren Fotografien an. Und was ist mit der eigenen Arbeit? Schreibe ich so, weil ich mich auf eine bestimmte Art bewege? Auch wenn ich hoffe, dass es Passagen in meinen Texten gibt, die auf eine irgendwie wache Art sich durch die soziale Welt zu bewegen verweisen, sind es doch vor allem jene Textpassagen, die träge sind, die etwas über meine Arbeitsweise mitteilen. Oder jene, die verkopft sind. Denn ich sitze zu viel und lese dabei noch zu viel nichtlebendiges Zeug, so dass sich auch innerlich unbeweglich bin. Und das liest man. So wie man vielen Bildern heutiger Straßenfotograf:innen ansieht, dass sie nicht durch die Stadt streunen[5], sondern warten, dass ihnen das Leben vor die Füße fällt. Es heißt, es gäbe Straßenecken in New York, da zanken sich dutzende von ihnen um Motive wie Tauben um ein heruntergefallenes Hotdogbrötchen.
Apropos Metaphern. Freddy Langer hat ein Gespür dafür, wann es sich lohnt, die Fotograf:innen selbst zu Wort kommen zu lassen. Was umso wichtiger ist, weil sich Fotograf:innen, wie wohl die meisten Künstler:innen, um Kopf und Kragen reden, wenn sie ihre Kunst zu erklären versuchen. So zitiert er Nick Meyer, der einen beeindruckenden Fotoband über seine Heimatstadt Greendfield (Massachusetts) veröffentlicht hat, wie folgt: »Wir sind in den Ort eingegraben wie die Risse im Bürgersteig«. Es ist eine Assoziationen lostretende Metapher, die an Andrew Abbotts Verfahren der Lyrischen Soziologie[6] denken lässt, in dem es unter anderem darum geht, wie die emotionale Involviertheit von Autor:innen in den von ihnen untersuchten Gegenstand anschaulich gemacht werden kann. Der Beton, der mit der Zeit, die ungerührt voranschreitet, Risse bekommt. Die Risse, die wie Narben sind, die Menschen an diesem Ort, in den sie eingegraben sind, davongetragen haben. Aber auch: Der Bürgersteig der Kleinstadt, auf dem sie sich begegnen. Wo sie den Kopf heben, lächeln und fragen, wie es dem anderen denn so gehe. Dort, wo sie in den Augen des Gegenübers die eigene Geschichte erkennen. Die Narben, die Risse in der Biographie, über die sie nicht hinwegschlurfen können, ohne zu stolpern.
Und auch hier wirft die Lektüre des Bandes Fragen auf, die die soziologische Arbeit betreffen: Wie bin ich mit dem verbunden, über das ich forsche? Und wie kann ich darüber schreiben, dass meine Empfindung für einen Forschungsgegenstand Grammatiken unterliegt, die mit meiner eigenen Geschichte zu tun haben. Und damit zusammenhängend die Frage: Wie kann ich eine Empfindung, die ich gegenüber einem Forschungsgegenstand habe, für Leser:innen anschaulich machen? Indem ich, im Sinne Abbotts, die eigene Involviertheit anhand von Sprachbildern nachempfindbar mache? Oder ist ein solches Schreiben immer schief, schlimmstenfalls manipulativ? So wie gerade den Fotografien nicht zu trauen ist, in denen ein Fotograf dem Bild das Punctum aufzwingen will.
Wer Langers Besprechungen liest, lernt, nach was Ausschau zu halten ist, um etwas über die persönliche Komponente im (soziologischen) Werk zu erfahren. Das kann die Empfindung für einen Ort sein, an dem wir forschen, ein Ort, der einem Ort gleicht, der sich in uns eingegraben hat. Oder der sich radikal von diesem unterscheidet, was auf eine andere Art zur Selbstkritik des Tuns herausfordert. Das kann die Art sein, wie wir gelernt haben, uns körperlich-leiblich in sozialen Situationen zu bewegen. (Das kann das Herrschaftsverhältnis sein, das dem einen erlaubt sich auf eine bestimmte Art zu bewegen und der anderen nicht.) Das kann aber auch die Technik sein, der wir uns bedienen, um Beobachtungen festzuhalten.
Um den letzten Aspekt konkret zu machen: Ich fotografiere am allerliebsten mit dem Kleinbildfilm Kodak Tri-x. Ich mag die Kornstruktur, und dass er nicht ganz so fein mit Grautönen umgeht, sondern ein auf-die-Fresse-Film ist. Ich schätze den Film besonders mit Konica Hexanon Objektiven. Ilford passt dagegen wundervoll zu Olympus Zuiko Optiken. Und was ist eigentlich mit Brennweiten? Wie verändern diese nicht nur den Bildausschnitt, sondern meine Haltung vor dem Auslösen. Die Art, wie ich Wirklichkeit suche, Wirklichkeit sehe, Wirklichkeit einfangen möchte – das unterscheidet sich alles, je nachdem, ob ich mit einem 24mm, einem 50mm oder einem 90mm Objektiv fotografiere. Und welchen Unterschied macht es eigentlich, wenn ich eine Rangefinder-Kamera oder eine Spiegelreflexkamera nutze? Von der Entscheidung »analog« oder »digital« zu fotografieren ganz zu schweigen. Usw. usf.
Stelle ich mir als Soziologe nun vergleichbare Fragen, wenn es um Größe und Haptik von Notizbüchern geht? Oder ein bisschen weniger nerdig: Wie geht mit der Hand Feldnotizen zu verfassen in den fertigen Text ein? Wie geht ins Handy zu sprechen und die Notizen per Sprachsoftware zu übertragen in den fertigen Text ein? Wie geht in den Text ein, wenn ich Exzerpte, Notizen und Ideen, die ich zwar in einen Laptop getippt habe, ausdrucke, die Seiten mit der Schere zerschneide und sie am Fußboden neu geordnet zusammenklebe? Wie geht in den Text ein, wenn ich mein Material stattdessen mit Citavi sortiere? (Kann sich heute eigentlich irgendjemand vorstellen, eine Dissertation mit der Schreibmaschine zu verfassen?) Bildet sich das alles im veröffentlichten Text ab, so wie die Wahl eines Objektivs in Kombination mit einem Film die Fotografie (mit-)bestimmt? Abzug und Text unterscheiden sich. Aber in beidem wird Wirklichkeit fixiert. Und mehr darüber zu wissen, wie wir warum Wirklichkeit fixieren, kann ja nicht schaden.
Wenn »vorübertänzeln« – zumindest in einer bestimmten Phase ihres Schaffens – das treffende Verb ist, um Helen Levitts Art, sich fotografierend durch die Welt zu bewegen, zu beschreiben, was wäre dann ein treffendes Verb für die Arbeitsweise Everett C. Hughes? Oder für die Theodor W. Adornos? Und was ist mit zeitgenössischen Soziolog:innen? Welches Verb würde uns spontan einleuchten, weil es etwas über den Zusammenhang von persönlicher Komponente der Tätigkeit und veröffentlichtem Text mitteilt?[7] Fallen uns überhaupt welche ein? Und wenn uns das (heute) schwerfällt, was sagt uns das über die Produktionsbedingungen von Wissenschaft, die eigene soziologische Arbeitsweise und deren Resultate: die Texte?
[1] Raymond Geuss, Nicht wie ein Liberaler denken, Frankfurt am Main 2023, S. 30 ff., S. 70ff.
[2] Howard S. Becker, »Sociology and Photography«, in: Studies in the Anthropology of Visual Communication 1.1, (1974), S. 3-26, hier S. 23 f.
[3] Hier eine kurze Passage aus der Besprechung des Fotobands Louis Faurers: »Was David Riesman damals in seiner Studie der einsamen, alleingelassenen Masse ausbreitete, The Lonely Crowd, bündelte Louis Faurer in seinen Bild Essays: die Suche nach Ablenkung und die Angst vor dem Versagen. Immer wieder fand er in der Mimik und Gestik der Menschen Zeichen der Orientierungslosigkeit« (S. 272).
[4] Die Aussage bezieht sich auf Levitts Straßenfotografie, nicht auf die Fotos des Bandes Manhattan Transit, dessen Besprechung in der vorliegenden Sammlung enthalten ist.
[5] Die treffendste Formulierung wäre »to ramble through the city«, aber diese lässt sich auch mit »durch die Stadt streunen« nicht wirklich übersetzen.
[6] Andrew Abbott, »Lyrische Soziologie. Für ein emotionales Erfassen sozialer Momente«, in: ders., Zeit zählt. Grundzüge einer prozessualen Soziologie, Hamburg 2020, S. 191–251.
[7] Der Autor der Rezension freut sich über Vorschläge.