01. April 20
Eine Herde wilder Kaschmir-Ziegen wurde in den Straßen Llandudnos gesichtet. (Ich wusste weder, dass es eine Tierart namens wilde Kaschmir-Ziegen gibt, noch hatte ich Kenntnis von einem Ort namens Llandudno. Krass, diese Wirklichkeit.)
Seit zwei Tagen sitzt am Vormittag ein Greifvogel im Baum neben meinem Balkon. Ich kann ihn nicht sehen, er sitzt in der von mir abgewandten Seite der Baumkrone und die Nadeläste sind zu dicht. Ich höre seine Rufe, kann aber kann nicht erkennen, um was für ein Tier es sich handelt.
Am Sonntag kreiste ein großer Vogel über dem Tümpel in den Mainauen. Er hatte graue Flügel (ich schlug später die richtige Bezeichnung nach: Armschwingen), schwarze Flügelspitzen (Handschwingen) und einen breiten hellgrauen Stoß. Ich hielt ihn für einen Fischadler und starrte gebannt in den Himmel.
Das letzte Mal hatte ich Fischadler während einer Reise entlang der amerikanischen Ostküste gesehen. Dutzende kreisten über der abgefucktesten Stadt, in der ich jemals war: Jacksonville. Es gab dort einen Buchladen, der irre schön war. Amerika. Direkt nebeneinander existieren absolute Kaputtheit und größtmögliche Schönheit. Als mich in Philadelphia der Besitzer eines Second-Hand-Bookstores fragte, was ich über das Land erfahren hatte, antwortete ich: „Two people sitting next to each other in the New York Subway, one with the most lively eyes I have ever seen, full of strange kindness and joy, the other one with the saddest eyes I have ever seen, broken, close to death.”
Ich fragte einen Mann, der den Flug des Vogels mit einem Fernglas verfolgte, ob es ein Fischadler sei. Er machte Anführungszeichen in der Luft und sagte: „Ist ‚nur‘ eine Rohrweihe.“ Später musste ich den Mann erneut ansprechen. Ich war mir, nachdem ich ihn gefragt hatte, nicht mehr sicher, ob ich „Ist das ein Fischadler?“ oder „Ist das ein Seeadler?“ gefragt hatte. Seeadler in Bayreuth zu sehen ist entweder ein Anzeichen für eine Wahnvorstellung oder für Ignoranz. Ich fühlte mich dumm und wollte das Bild, das der Mann von mir haben musste, geraderücken. (Was ja wiederum auf eine ganz eigene Art von Dummheit verweist.) Zu meiner Überraschung sagte er: „Du hast Fischadler gesagt. Aber einen Seeadler habe ich hier auch schon gesehen. Aber nur ganz oben am Himmel, beim Drüberflug.“ (Noch krasser, diese Wirklichkeit).
In Theodor Mebs` Greifvögel Europas und die Grundzüge der Falknerei ist über die Rohrweihe zu lesen: „Der Spähflug über den wogenden Schilffeldern ist ein sehr wendiges, schwankendes Dahingleiten, Absinken und Aufsteigen“ (1982, S. 58).
Ja, genau! Genauso hatte das ausgesehen!
Ich schreibe und verfolge mehr oder weniger parallel dazu (Celo & Abdi Voice) das letzte Trump-Briefing zum vormals „Chinese Virus“, jetzt: „Deadly Virus“. Es liegt ein Adjektiv zwischen Allmachtsfantasien und Ohnmachtsarrangement.
Dann suche ich nach einer Passage in Detlef Kuhlbrodts Umsonst & Draußen, die ich ein paar Tage zuvor gelesen hatte und die, wie es bei im Gedächtnis bleibenden Textstellen so ist, über ihren konkreten Zusammenhang hinausreicht, ohne dass derjenige, der die Stelle gelesen hat, den Kontext, aus dem sie ursprünglich stammt, vergessen wird: „Dies ist ja alles wirklich, die Toten, die Grausamkeit der Tode, die Vorwürfe, die man sich automatisch macht, und gleichzeitig lebt man ja hier, geht es ja hier darum, dass man versucht, so sorgfältig wie möglich zu handeln, »bewusster« zu leben, die eigenen Probleme in den Griff zu kriegen, »mehr auf sich zu achten«, sich nicht von der Vergangenheit auffressen zu lassen, nicht von ihr davonzulaufen, sein Leben zu ändern, eine Vorstellung zu entwickeln von dem, was man eigentlich will, sich in die Zukunft zu werfen usw. usf.“
Usw. usf.