25. Mrz. 20

Er geht auf die Arbeit, die, so sieht er die Dinge, systemrelevant ist. Zumindest dann, so denkt er weiter, wenn systemrelevant bedeutet, dass das System auf freien, ambivalenztoleranten Menschen ruht, um zu sich selbst zu kommen. Das heißt: Irgendwann einmal demokratisch sein wird. Er gehörte nie zu den Gesellschaftskritikern, die ohne jeden Wirklichkeitsbezug, die Welt verbittert grau malten. Er verachtet das Reine und hat weder Wut auf noch Angst vor der Differenz. Er mag störrische Menschen und Höflichkeit. Er hat gelernt, dass Biographien mäandern.* Dass Lebensweisen Bachläufe und Flussdelta sind und niemals nie begradigte Kanäle sein sollten. Und so übt er – oder sollte es heißen: übte er – seine Tätigkeit enthusiastisch aus. Es gab müde Tage, aber zumeist nach schönen, langen Nächten, so dass auch die Müdigkeit eine schöne war. Dann begannen seine Einstellung und seine Müdigkeit sich zu verändern. Die gleichgültigen Sätze derjenigen, die die gleiche Arbeit wie er verrichteten (und hier passt das Wort), die lange zum einen Ohr rein und zum anderen rausgingen, ohne sich neben der Phantasie einzunisten, verhakten sich und blieben. Sie bildeten um einen besonders gleichgültigen Satz herum Ansiedlungen. Irgendwann wurde das Rauschen zu laut und überlagerte die einzelnen Stimmen derjenigen, wegen denen er doch eigentlich hier war. Vor ihm saßen keine Menschen mehr, er sah in Massenaugen, hörte Massensprache, entdeckte Massenleben. Er erschrak und wurde unbeweglich. Da er weder Erschrecken noch Unbeweglichsein als Dauerzustand hinnehmen wollte, entschied er sich dazu, den Vertrag, der bald auslief und den er um ein Jahr hätte verlängern können, nicht zu verlängern. Jetzt, da Corona das Leben stillstellt und verändert, gibt es Momente, in denen er seine Entscheidung, ein Jahr lang auf sicheres, gutes Geld verzichtet zu haben, als Anmaßung gegenüber denen empfindet, die ums (finanzielle) Überleben kämpfen. Aber dann spürt er, dass es genau darum ja ging und dass er genau das zu verlieren drohte: Er wollte wieder Menschen erkennen.

* Mit Dank an Götz Eisenberg für das Sprachbild.

Abgelegt unter: — 25.03.2020