29. Feb. 20

Der Morgen ist grau und nass. Ich hasse Geldabheben. Wenn ich an dem Automaten stehe, werde ich unruhig. Ich kann weder mit der Geldkarte noch mit den Scheinen irgendetwas anfangen. Die Karte werde ich verlieren. Das Geld, das der Automat gerade eben ausgespuckt hat, wird in einer Woche durch hunderte Hände gegangen sein. Ich fahre zum Wochenmarkt. Weder vor noch in der Rotmainhalle tragen Menschen Schutzmasken. Ich möchte ein Kürbiskernbrot kaufen. Die Verkäuferin reagiert erst nicht, reißt sich dann doch von ihrem Smartphone los, packt das Brot in eine Tüte, blickt mir in die Augen und lächelt ein zugewandtes, schönes Lächeln. Ich durchquere die Halle. Bei der Frau, die Marmelade verkauft, werde ich nichts mehr kaufen. Sie bewacht ihre Gläschen, als wären sie Diamantenschmuck. Der kleine Gemüsehändler mit Hut hat etwas Herrisches. Ich laufe hin und her, sehr vage Gedanken pendeln in meinem Kopf: Supermärkte sind nicht nur erfolgreich, weil sie billig sind. Sie sind auch erfolgreich, weil der Einkauf in einem Supermarkt ohne Worte hinter sich gebracht werden kann. (Dieses In-Regale-Greifen, ohne eine Frage gestellt zu bekommen und ohne eine Antwort geben zu müssen, passt zu Menschen, die wie Eisenberg vielleicht sagen würde, in „Gerätefamilien“ aufwachsen, erwachsen werden, sterben.) Am Wochenmarkt ist das anders. Darum bin ich heute ja überhaupt los. Ich wollte Worte wechseln. Aber dann überfordert mich die Unbeschwertheit der Verkäufer. Ich schaffe es kaum, den Mund aufzumachen, geschweige denn mich klar auszudrücken. Als ich zum zweiten Mal an einem Gemüsestand vorbeilaufe, scheint der Verkäufer meinem Zustand freundlich gesinnt. Ich bleibe stehen, greife nach einem Strauß Radieschen und halte ihn dem Verkäufer hin. Er sagt: „Die Radieschen müssen wir nicht wiegen, die können gleich in die Tasche.“ Ich kaufe Chicorée, Tomaten und drei Orangen. Als ich die Halle verlasse, bricht die Sonne durch die Wolkendecke. An einem der Stände vor der Halle kaufe ich Fladenbrot und Kirschpaprikacreme. Der Verkäufer siezt mich erst, duzt mich einen Satz später und erklärt, wie das Fladenbrot am besten schmeckt: „Vielleicht drei, vier Minuten in den Ofen, dann einfach draufstreichen, ist sehr sehr lecker.“ Ich setze mich auf mein Fahrrad und fahre zum Fotogeschäft. Herr A. stellt zwei Ilford-Filme auf die Ladentheke und fragt: „Mögen Sie das Original oder die Fälschung?“ Als er merkt, dass ich mal wieder nichts verstehe, erklärt er mir den Unterschied. Ich frage, ob die ‚Maschine‘ (ich sage wirklich die Maschine, weil ich nicht weiß, um was für einen Apparat es sich genau handelt) wieder funktioniere; und ob ganz vielleicht mein letzter Film fertig sei. „Wenn alles gut läuft, was haben wir heute, ah, den 29., dann ich etwa acht Tagen, wie gesagt, wenn alles gut läuft, kann ich Ihnen aber nicht versprechen, weil die Ersatzteillieferung dauert einfach. Entwickeln können wir, das wissen Sie ja, aber keine Abzüge machen und auch nicht auf CD brennen.“ Wir wünschen uns ein schönes Wochenende. Am Bahnhofskiosk kaufe ich die Welt und die Frankfurter Rundschau. Der Verkäufer erinnert mich an einen Schriftsteller, der keine Bücher verkauft, aber ein glückliches Leben führt. Im dm-Markt kaufe ich Zahnpasta, Duschgel und Klopapier. Ich stehe vor der Verkäuferin und starre sie an. Könnte sie mir in den Kopf gucken, dann wüsste sie, dass ich ihr heute nicht auf den dick geschminkten Mund starre, sondern es einfach nicht packe, dass sie und die Menschen, denen ich in der letzten Stunde begegnet bin, gemäß soziologischer Theorie das Gleiche tun. Ich stehe noch vor ihr, weiß aber schon nicht mehr, wie sie aussieht. Die Verkäuferin hat die Farbe des Kassenbands angenommen. Sie zieht die Dinge über den Scanner und sagt eine Zahl. Ich glaube es war Marcuse, der fragte: „Was ist der gewöhnliche Wortschatz?“ Das Geld, das ich abgehoben habe, habe ich fast ausgegeben. Vor dem Haus treffe ich den Nachbarn aus der gegenüberliegenden Wohnung. Er hat rote, paranoide Augen. Er sagt: „In der Tanke, im Lidl, nirgends kann man noch was anfassen.“ Dann setzt er sich auf sein Fahrrad und fährt davon.

Ich sitze im Schneidersitz auf der Matratze, tippe die paar Zeilen und plötzlich trägt der Wind die Rufe eines Mäusebussards durch das geöffnete Fenster bis zur Tastatur.

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