23. Apr. 19
Vor einigen Tagen entdeckte ich Tracy Emin. Ich habe null Ahnung von Malerei und Zeichnungen. Ich saß mal eine Stunde vor einem Turner Gemälde, das im Philadelphia Museum of Arts hängt und staunte. Mein Zugang ist willkürlich, manchmal glaube ich, mir eines Kriteriums gewiss zu sein, aber das hält nie lange vor. Ich entdeckte Tracey Emin als Cover eines Henry Miller Buchs. Also sie war nicht das Cover, sondern eine ihrer Zeichnungen – oder wie ich las: Monotypen – ist auf dem Cover abgebildet. Es ist eine Sexszene, die Frau sitzt oben, weshalb der Titel On Top lautet. Es kann sein, dass ich länger über den Titel nachdenken müsste. Die Striche könnten mit Filzstift gezeichnet/gemalt sein oder mit Kohle. Aber wahrscheinlich wird bei Monotypen gar nichts gezeichnet/gemalt, sondern gemonotypt. Es ist mir egal, denn die Darstellung ist dreckig und intim und hat etwas Wahrhaftiges. Die Frau hat etwas Wahrhaftiges. Das Gesicht des Mannes ist mit groben Strichen geschwärzt. Warum das so ist, verstand ich, nachdem ich die ersten 65 Seiten der Autobiographie Emins gelesen hatte. Wobei die Bezeichnung Autobiographie unpräzise ist, denn die Sprache ist zu wirklich für die Wirklichkeit. Da stehen unglaubliche Sätze, sagte ich zu meinen [1] Studierenden, als ich über das Buch sprach. Seit mehreren Semestern versuche ich am Ende eines Seminars wilde fünf Minuten zu etablieren. Das mag kindisch klingen, ist aber ziemlich ernst. Die Idee ist, dass irgendwer über irgendetwas spricht, das sie oder ihn in der letzten Zeit begeistert hat. An deutschen staatlichen Bildungseinrichtungen herrscht völlige Begeisterungslosigkeit. Unsere Augen sind trübe. Das geht so nicht.
[1] Note to myself: Warum verwende ich ein Possesivpronomen?