14. Mrz. 20

Für eine Stunde kann ich im Shirt auf dem Balkon sitzen. Die Stunde fühlt sich an wie ein ganzer Sonnenmonat. Zwei Amselmännchen kämpfen einen Hahnenkampf, zwei Meisen balzen wie Bussarde, fallen, steigen, fallen. Niemand im Haus schreit.

Ich lese Moritz von Uslars Nochmal Deutschboden. In meinem Kopf schreibe ich eine Rezension des Buches, indem ich an dem Buch einen Gedanken Pasolinis weiterspinne: die Zerstörung von Sonderkulturen durch die Konsumgesellschaft. Klar, Sonderkultur und Konsumgesellschaft sind jetzt eher Betonbegriffe, aber mir zehntausendmal lieber als Begriffe, deren Kanten durch das Drehen und Wenden im einzigartigen Selbstzensurkopf abgeschliffen wurden. Als ich mich dann aber hinsetze, um die Rezension aus dem Kopf und auf das Blatt zu holen, ziehen Wolken auf.

In meinem Haus gehören alle zu Covid-19 Risikogruppen. Die Frau, die nur am Mittwoch aus der Wohnung kommt, um halbe Hähnchen bei dem Stand an der Ausfahrtstraße zu kaufen, raucht, ist dick, hat graue Haut. Der Nachbar von gegenüber kifft viel, sein Paniklevel kann ihn killen. Die Familie, die in der Wohnung über mir lebt, ist so sehr underclass, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll: Gewicht, Zähne, Kippen, in die Körper eingegrabene Demütigungen, nach außen gekehrte Verbitterung, kaputter Gang. Der Mann trägt seine Freiwildjacke mit Stolz. Die Frau brüllt. Der Kleine schreit und schreit. Der Größere muss so viel aushalten, sein Blick hält keinem Blick stand. Als bei mir alle Sicherungen rausgeflogen sind und ich keine Ahnung hatte, warum, suchte der Mann mit mir nach dem Grund, seinen Kleinen trug er Huckepack. Als den Kleinen eine Wespe in die Lippe gestochen hatte, klingelte die Mutter und bat um meine Hilfe. Sie sagte, ich werde ja bald Doktor sein. Ich habe die beiden beruhigt, so gut es ging. Als sich die Aufregung gelegt hatte, versuchte ich ihnen zu erklären, was ich eigentlich tue. An einem Abend, der Mann war nicht zuhause, hatte sich eine Hornisse in das Zimmer des Kleinen verirrt. Ich fing sie mit einem Glas. Als nach einer Geburtstagfeier Kuchen übriggeblieben war, brachten sie mir ein Stück Torte, das mit dem Gucci-Logo verziert war.

Abgelegt unter: — 14.03.2020